Intelligenz neu denken

von James Bridle

Übermächtige Roboter, allgegenwärtige Algorithmen? Unsere aktuelle Vorstellung von Künstlicher Intelligenz ist sehr einseitig und düster, so Künstler*in und Autor*in James Bridle. Bridle plädiert für ein neues Verständnis davon, was Intelligenz eigentlich bedeutet – jenseits der Definition, dass sie etwas singulär Menschliches ist. Denn was wäre, wenn wir zukünftige Formen maschineller Intelligenz nach anderen Vorbildern erschufen? Könnte die Abkehr vom Menschen als Bezugspunkt aller Definitionen und Dinge nicht der erste Schritt in eine gerechtere und regenerativere Zukunft sein?

Ich werde manchmal gefragt, wann denn die “echte” KI kommen wird – d. h. die Ära der superintelligenten Maschinen, die in der Lage sind, die menschlichen Fähigkeiten zu übertreffen und uns zu verdrängen. Darauf antworte ich oft: Sie ist bereits da. Es sind die Konzerne. Das wird meist mit einem unsicheren halben Lachen quittiert, also erkläre ich die Sache genauer. Wir neigen dazu, uns KI als etwas vorzustellen, das durch einen Roboter oder einen Computer verkörpert wird, aber tatsächlich kann sie in jeglicher Form daherkommen. Stellen Sie sich ein System mit klar definierten Zielen vor, mit Sensoren und Effektoren, um die Welt zu lesen und mit ihr zu interagieren, mit der Fähigkeit, Freude und Schmerz als Attraktoren bzw. als etwas, das es zu vermeiden gilt, zu erkennen, ein System mit den nötigen Ressourcen, um den eigenen Willen durchzusetzen, und mit der rechtlichen und sozialen Stellung, die dafür sorgt, dass seine Bedürfnisse befriedigt, ja sogar respektiert werden. Das ist die Beschreibung einer KI – es ist aber auch die Beschreibung eines modernen Unternehmens. Für diese kommerzielle “Unternehmens-KI” erwächst Freude aus Wachstum und Rentabilität, und Schmerz bereiten ihr Gerichtsverfahren und sinkender Unternehmenswert. (….)

Der Science-Fiction-Autor Charles Stross vergleicht unser Zeitalter der Unternehmenskontrolle mit den Nachwirkungen einer außerirdischen Invasion. “Unternehmen haben nicht die gleichen Prioritäten wie wir. Sie sind Bienenstock-Organismen, sie bestehen aus wimmelnden Arbeitern, die sich dem Kollektiv anschließen oder es verlassen: Diejenigen, die daran teilnehmen, ordnen ihre Ziele denen des Kollektivs unter, das die drei Unternehmensziele Wachstum, Rentabilität und Schmerzvermeidung verfolgt”, schreibt Stross. “Wir leben heute in einem globalen Staat, der zum Nutzen von nicht-menschlichen Einheiten mit nicht-menschlichen Zielen strukturiert wurde.”

So gesehen ist es nicht schwer zu verstehen, warum die Herren der größten Unternehmen von heute ihr eigenes Obsoletwerden durch künstliche Intelligenz fürchten. Wenn sie nicht mehr an der Spitze stehen, wären sie genauso verletzlich wie der Rest von uns gegenüber allmächtigen Wesen, die andere Interessen haben als sie und die sie bestenfalls beiseite schieben und schlimmstenfalls physisch in eine nützlichere Konsistenz überführen würden.

Unsere Definition von KI ist eine gewinnorientierte, extraktive.

Ich schließe aus dieser düsteren Einschätzung, dass unsere Vorstellung von künstlicher Intelligenz – und damit, weil sie sich an uns Menschen orientiert, von Intelligenz im Allgemeinen – grundlegend fehlerhaft und begrenzt ist. Es zeigt, dass wir, wenn wir über KI sprechen, hauptsächlich über diese Art von kommerzieller Intelligenz sprechen und all die anderen Arten von Dingen ignorieren, die KI – die jede Art von Intelligenz – sein könnte.

Das passiert, so scheint es, wenn die Entwicklung von KI hauptsächlich von risikokapitalfinanzierten Technologieunternehmen vorangetrieben wird. Die Definition von Intelligenz, die in Maschinen entworfen, unterstützt und letztlich konstruiert wird, ist eine gewinnorientierte, extraktive. Dieses Framing wird anschließend in unseren Büchern und Filmen, in den Nachrichtenmedien und in der öffentlichen Vorstellung wiederholt – in Science-Fiction-Erzählungen von übermächtigen Robotern und allmächtigen, unwiderstehlichen Algorithmen –, bis es unser Denken und Verstehen beherrscht. Wir scheinen unfähig zu sein, uns Intelligenz irgendwie anders vorzustellen – was bedeutet, dass wir dazu verdammt sind, nicht nur mit dieser Vorstellung zu leben, sondern sie zu reproduzieren und zu verkörpern, zum Schaden von uns selbst und unserem Planeten. Wir werden den Maschinen, die wir uns vorstellen, immer ähnlicher, und zwar auf eine Art und Weise, die in der Gegenwart zutiefst negative Auswirkungen auf unsere Beziehungen untereinander und zur übrigen Welt hat.

Eine Möglichkeit, die Art dieser Beziehungen zu verändern, besteht also darin, die Art und Weise zu ändern, wie wir über Intelligenz denken: was sie ist, wie sie auf die Welt wirkt und wer sie besitzt. Jenseits des engen Definitionsrahmens, den sowohl Technologieunternehmen als auch die Lehre von der Einzigartigkeit des Menschen (die Vorstellung, dass die menschliche Intelligenz unter allen Lebewesen einzigartig und überragend ist) vorgeben, gibt es eine ganze Reihe anderer Möglichkeiten, Intelligenz zu denken und anzuwenden. Es geht darum, über den Horizont unserer eigenen Ichs und unserer eigenen Schöpfungen hinauszublicken, um eine andere Art oder viele verschiedene Arten von Intelligenz wahrzunehmen, die schon die ganze Zeit hier, direkt vor unseren Augen, existiert haben – und uns in vielen Fällen vorausgegangen sind. Auf diese Weise könnten wir unser Denken über die Welt verändern und einen Weg in eine Zukunft einschlagen, die weniger ausbeuterisch, weniger zerstörerisch und weniger ungleich und stattdessen gerechter, freundlicher und regenerativer ist.

Auf dieser Reise werden wir nicht allein sein. In den letzten Jahrzehnten hat sich eine ganz andere Vorstellung von Intelligenz herausgebildet. Dieses neue Verständnis von Intelligenz, das einerseits aus den Biologie- und Verhaltenswissenschaften und andererseits aus der zunehmenden Wertschätzung und Berücksichtigung indigener und nicht-westlicher Wissenssysteme hervorgegangen ist, steht im Widerspruch zu Narrativen des nur auf ein einziges Ziel gerichteten Strebens und der Gier. Und was für unsere Geschichte noch viel wichtiger ist: Es stellt die Vorstellung in Frage, dass Intelligenz etwas singulär oder auch nur besonders “Menschliches” ist.

Was würde es bedeuten, künstliche Intelligenzen und andere Maschinen zu entwickeln, die eher wie Kraken, wie Pilze oder wie Wälder sind?

Bis vor kurzem ging man davon aus, dass einzig und allein der Mensch Intelligenz besitzt. Sie galt als die Eigenschaft, die uns unter den Lebensformen einzigartig machte – und in der Tat war die brauchbarste Definition von Intelligenz vielleicht “das, was Menschen tun”. Das ist heute nicht mehr der Fall. Dank jahrzehntelanger Arbeit, sorgfältiger wissenschaftlicher Forschung, vielem Nachdenken und der gelegentlichen, aber unverzichtbaren Zusammenarbeit mit nicht-menschlichen Kollegen und Partnern beginnen wir gerade erst, die Tür zum Verständnis einer völlig anderen Form von Intelligenz zu öffnen – ja, von vielen verschiedenen Intelligenzen.

Ob Bonobos, die komplexe Werkzeuge herstellen, Dohlen, die uns Menschen beibringen, für sie nach etwas zu suchen, Bienen, die über die Flugrichtung ihrer Schwärme diskutieren, oder Bäume, die miteinander sprechen und sich gegenseitig ernähren – oder etwas, das viel größer und unbeschreiblicher ist als diese bloßen Spielereien: die nichtmenschliche Welt scheint plötzlich voller Intelligenz und Handlungsfähigkeit (agency) zu sein. Aber das täuscht natürlich: Diese anderen Intelligenzen waren schon immer da, überall um uns herum, doch die westliche Wissenschaft und die populäre Vorstellung haben nach Jahrhunderten der Unaufmerksamkeit und Verleugnung gerade erst begonnen, sie ernst zu nehmen. Und sie ernst zu nehmen heißt, dass wir nicht nur unsere Vorstellung von Intelligenz, sondern auch unsere Vorstellung von der gesamten Welt neu austarieren müssen. Was würde es bedeuten, künstliche Intelligenzen und andere Maschinen zu entwickeln, die eher wie Kraken, wie Pilze oder wie Wälder sind? Was würde es – für uns – bedeuten, mit ihnen zu leben? Und inwiefern würde uns das der natürlichen Welt näher bringen, der Erde, die unsere Technologie entzweit und von der sie uns entzweit hat?

 

Die mehr-als-menschliche Welt

Ich möchte auch für die Handlungsmacht (agency) und das Person-Sein (personhood) der Technologie selbst plädieren, oder vielleicht besser: der künftigen Technologie: der vielfach prophezeite Moment, in dem unsere Maschinen autark, selbstbewusst, vielleicht autonom werden. Ein solcher Moment enthebt uns Menschen nicht der Verantwortung oder der Möglichkeit, unsere eigenen Einstellungen und Verhaltensweisen zu ändern. Im Gegenteil, das Nachdenken über die Handlungsmacht der Technologie bietet die Gelegenheit, ernsthaft und konkret darüber nachzudenken, wie wir mehr Gerechtigkeit und Gleichheit für alle Bewohner des Planeten – Menschen, Nicht-Menschen und Maschinen – gewährleisten können. Vorerst verbleibt die Technologie größtenteils in unseren Händen, und es liegt nach wie vor in unserer Macht, ihre Verflechtung mit der Welt und ihre Auswirkungen auf die Welt zu reparieren, zu restaurieren und zu regenerieren.

Es war nicht die Technik, die uns aus dem Garten Eden vertrieben hat oder aus Babylon fliehen ließ. Es war nicht die Technik, die das nicht-menschliche Leben als brutal oder mechanisch abtat, geeignet allenfalls fürs Schlachthaus und den Seziertisch. Das waren vielmehr Habgier und Hybris, Aristoteles und Descartes, das Gebäude des menschlichen Exzeptionalismus und der abendländischen, europäischen Philosophie. Die Technik verkörpert die Ideen und Metaphern ihrer Zeit, aber solche Werkzeuge lassen sich auch zu anderen Zwecken einsetzen, und das gilt auch für uns. Wie der Dichter und Visionär William Blake schrieb: “Der Baum, der die einen zu Freudentränen rührt, ist in den Augen der anderen nur ein grünes Ding, das im Weg steht. Manche sehen in der Natur nur Lächerlichkeit und Missgestalt (...) und manche sehen die Natur überhaupt nicht. Aber in den Augen der fantasiebegabten Menschen ist die Natur selbst Fantasie.”

Die Technik verkörpert die Ideen und Metaphern ihrer Zeit, aber solche Werkzeuge lassen sich auch zu anderen Zwecken einsetzen.

Mehr denn je ist es Zeit für neue Vorstellungen. Doch dieser Akt der Einbildungskraft, der Fantasie kann nicht allein von uns geleistet werden. Wenn wir uns gegen den menschlichen Exzeptionalismus wenden wollen, müssen wir über ihn hinaus denken und in Blakes Vision die tiefe Wahrheit seiner Worte erkennen: Die Natur selbst ist Fantasie. In dieser Wahrheit steckt die Philosophie hinter dem Begriff “die mehr-als-menschliche Welt”.

Die von dem amerikanischen Ökologen und Philosophen David Abram geprägte Wendung von der “mehr-als-menschlichen Welt” bezieht sich auf eine Denkweise, die unsere menschliche Neigung, uns von der natürlichen Welt abzusondern, überwinden möchte. Diese Tendenz zur strikten Trennung ist sogar in der Umweltbewegung, die uns die Natur doch eigentlich näher bringen und sie damit bewahren will, weit verbreitet. Denn indem wir unsere Intentionen so formulieren, haben wir bereits eine implizite Trennung zwischen uns und der Natur vollzogen, als wären wir zwei getrennte Entitäten, die nicht durch unauflösliche Bande des Ortes und der Herkunft miteinander verbunden sind. Konventionelle Begriffe wie “Umwelt” oder auch “Natur” (insbesondere im Gegensatz zur “Kultur”) verstärken die irrige Vorstellung, wonach es in der Welt eine klare Trennung zwischen uns und ihnen, zwischen Menschen und Nicht-Menschen, zwischen unserem Leben und dem wimmelnden, vielfältigen Leben und Sein des Planeten gibt.
 

Im Gegensatz dazu erkennt die “mehr-als-menschliche Welt” an, dass die ganz reale menschliche Welt – der Bereich unserer Sinne, unseres Atems, unserer Stimme, unserer Erkenntnis und unserer Kultur – lediglich eine Facette von etwas viel Größerem ist. Alles menschliche Leben und Sein ist untrennbar mit allem anderen verwoben und von ihm durchdrungen. Zu diesem umfassenden Gemeinwesen gehören sämtliche Bewohner der Biosphäre: Tiere, Pflanzen, Pilze, Bakterien und Viren. Es umfasst die Flüsse und Meere, die uns tragen, die Winde, die uns schütteln, die Steine und die Wolken, die uns beschatten. Von diesen belebten Kräften, diesen Gefährten auf dem großen Abenteuer der Zeit und des Werdens, können wir viel lernen und sie haben uns bereits viel beigebracht. Wegen ihnen sind wir, wer wir sind, und ohne sie können wir nicht leben.

Die mehr-als-menschliche Welt verlangt unsere Anerkennung, denn ohne sie sind wir nichts.

Die Vorstellung von einer mehr-als-menschlichen Welt lässt außerdem anklingen, dass diese Dinge Wesen sind: keine passiven Requisiten im Drama unserer eigenen Hauptbeschäftigungen, sondern aktive Teilnehmer an unserem kollektiven Werden. Und weil dieses Werden, dieses potenzielle Gedeihen, kollektiv ist, verlangt es, dass wir die Seiendheit, das Person-Sein der anderen anerkennen. Die Welt besteht aus Subjekten, nicht aus Objekten. Alles ist in Wirklichkeit jeder und jede, und alle diese Wesen haben ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten, Sichtweisen und Lebensformen. Die mehr-als-menschliche Welt verlangt unsere Anerkennung, denn ohne sie sind wir nichts. “Leben und Wirklichkeit”, schrieb der buddhistische Philosoph Alan Watts, “sind keine Dinge, die man für sich selbst haben kann, wenn man sie nicht auch allen anderen zugesteht. Sie gehören genauso wenig bestimmten Personen wie Sonne, Mond und Sterne.”

(…)
 

In Anbetracht dessen, dass wir Menschen und die Dinge, die wir herstellen, untrennbar mit der mehr-als-menschlichen Welt verwoben sind, und angesichts der Tatsache, dass ein Überdenken unserer Beziehung zu dieser Welt voraussetzt, dass wir ihre Existenz und ihre Handlungsfähigkeit anerkennen, müssen wir eingehender darüber nachdenken, welche Form diese Beziehung annehmen könnte. Ein Teil dieses Verhältnisses ist schlicht und einfach Fürsorge: eine ständige Aufmerksamkeit für die Bedeutung und Wirkung unserer Verflechtung. Der Rest ist – leider – Politik: das harte, handfeste Klein-Klein von Debatten, Entscheidungsfindung, Machtbeziehungen und Status. Hier, so glaube ich, hat die computerisierte Welt etwas Entscheidendes zu unserer mehr-als-menschlichen Gemeinschaft beizutragen, etwas, das mit der Zeit ihre Aufnahme in dieses Gemeinwesen rechtfertigen könnte (sollte es einer Rechtfertigung bedürfen). Die unendliche Komplexität der Computerisierung, die wir ausgehend von der materiellen Welt prophezeit oder zusammenfantasiert und in Gestalt von Maschinen instanziiert haben, kann uns viel darüber verraten, wie wir uns zueinander verhalten sollten: Maschinen, die uns zusammen mit Honigbienen, heiligen Flüssen, eingesperrten Elefanten und Rouletterädern zu einer gerechteren und ausgewogeneren, einer mehr-als-menschlichen Politik führen könnten.

Wie der Schock des mehr-als-menschlichen Bewusstseins beweist, betrachten wir die “Natur” weitgehend als etwas von uns Getrenntes. Wenn wir von den fantastischen Zukunftsvisionen der Hochtechnologie sprechen, sprechen wir von einer “neuen” oder “nächsten” Natur, einer Utopie der Computerisierung, die den tatsächlichen Boden, von dem wir herkommen und auf dem wir immer noch stehen, weiter entfremdet und ersetzt. Es ist an der Zeit, diesen pubertären Solipsismus abzulegen – sowohl um unserer selbst als auch um der mehr-als-menschlichen Welt willen. Es gibt nur Natur in all ihrer ewigen Blüte, und sie bringt Mikroprozessoren, Rechenzentren und Satelliten genauso hervor, wie sie Ozeane, Bäume, Elstern, Öl und uns hervorgebracht hat. Die Natur ist selbst Fantasie. Wir sollten sie also nicht re-imaginieren, sondern anfangen, sie uns neu vorzustellen, mit der Natur als unserer Mitverschwörerin: unserer Partnerin, unserer Kameradin und unserer Führerin.

Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn.

Dieser Text ist ein leicht veränderter Auszug aus der Einleitung zu James Bridles Buch “Die unfassbare Vielfalt des Seins. Jenseits menschlicher Intelligenz”, das im Frühjahr 2023 bei C.H.Beck erscheinen wird.

Im Programm von “Spy on Me #4”:

James Bridle
What Does The River Want?
27.9.2022, 20:00 / HAU1

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Bild oben: NewfrontEars

Festivalprogramm “Spy on Me #4 – New Companions”