“Ein orchestriertes Delirium”

Gedanken zu “Rolling” von Michael Laub

Fernsehen und Kino

Während meiner Kindheit in Belgien gab es zwei oder drei Fernsehprogramme, die Sendungen waren in Schwarz-Weiß und abends gegen elf war Sendeschluss. Später gingen meine Eltern ein paar Jahre in die USA, wo man rund um die Uhr fernsehen konnte. Als ich 1981 Remote Control Productions gründete, lebte ich in Schweden, nach meinem Wissen eines der ersten europäischen Länder mit Kabelfernsehen. Fasziniert von William Burroughs’ Cut-up-Verfahren, entdeckte ich, dass man völlig unterschiedliche Geschichten erschaffen kann, indem man zwischen den Programmen hin und her zappt – eine Idee, die ich fortan für mich nutzte. Um nicht für den Rest meines Lebens als Cut-up-Künstler zu gelten, versuchte ich mich auch an eher linearen Stücken. Ich langweile mich leicht und stehe mir und meiner Arbeit oft kritisch gegenüber. “Fassbinder, Faust and the Animists” ist eines der wenigen Stücke, mit denen ich uneingeschränkt zufrieden war – auf emotionaler, ästhetischer und sogar auf politischer Ebene. Das Scheitern des Stücks machte mir zu schaffen, und eine Zeitlang wusste ich nicht, was ich als Nächstes machen sollte.

“Im konservativen Belgien meiner Kindheit war das Kino ein wichtiger Zufluchtsort für mich.”

Im konservativen Belgien meiner Kindheit war das Kino ein wichtiger Zufluchtsort für mich. Aber viele der wirklich guten Filme waren erst ab 16 oder sogar erst ab 18 freigegeben, also tat ich alles dafür, um älter zu wirken, oder bat ältere Paare, ein Ticket für mich zu kaufen. Ich weiß noch, wie ich ständig Angst hatte, erwischt zu werden. Damals war das Kino einer der wenigen Orte, an dem es mir nichts ausmachte, allein zu sein. Oft fühlte ich mich orientierungslos, wenn nach einem Film die Lichter wieder angingen.

 

Die Entwicklung von “Rolling”

Bei “Fassbinder, Faust and the Animists” gab es von Vornherein einen formalen Rahmen und eine bestehende Chronologie, mit der ich herumspielen konnte: Ich hatte den Anfang, das Ende und die Szenen aus “Warnung vor einer heiligen Nutte”. Im Gegensatz dazu musste ich für mein aktuelles Stück selbst einen möglichen formalen Rahmen entwickeln. An manchen frühen Filmen der Nouvelle Vague finde ich besonders reizvoll, dass die Zuschauer*innen sich ihre eigene Erzählung konstruieren können, auf dieselbe Weise, wie wir oft auch die Realität wahrnehmen. Das Ironische an der Produktion war, dass meine eigene Theatergruppe sich auflöste, während wir ein Stück über eine Theatergruppe machten, die sich bei den Dreharbeiten zu einem Film auflöst. Eine geplante Tournee mit “Fassbinder…” wurde durch gruppeninterne Prozesse verhindert.

“Rolling” passierte einfach, ohne dass ich nach dem bösen Ende bei der vorherigen Produktion ein großes neues Stück geplant gehabt hätte. Ich fühlte mich ‘disconnected’ und wollte auch das neue Stück so nennen (auf Deutsch etwa ‘abgekoppelt’, ‘losgelöst’).

Als ich nach dem Durcheinander bei “Fassbinder…” überlegte, was ich als Nächstes tun wollte, erkannte ich, dass mir immer noch einige verdammt gute Darsteller*innen geblieben waren, die ich bis dahin nur in Hinblick auf “Fassbinder…” betrachtet hatte. Also warf ich noch einmal einen unbefangenen Blick auf sie und ergänzte sie mit weiteren. Das entstandene Ensemble leistete einen entscheidenden Beitrag zu meinem neuen Stück. Selbst wenn die Inszenierung ein Reinfall werden sollte – was ich natürlich nicht hoffe –, das Ensemble ist es ganz bestimmt nicht.

“Eine allzu offensichtliche Bedeutung bereitet mir immer Unbehagen.”

Bei den ersten Proben versuchte ich – neben eher thematisch orientierten Ansätzen – drei oder vier Filmausschnitte zu einer Szene zu montieren. Sie fügten sich auf merkwürdige Art und Weise zusammen. Am Abend nach einer dieser Proben dachte ich: Wenn wir drei Ausschnitte miteinander verbinden können, wieso sollen wir es nicht mit fünf probieren? So ging es dann weiter, ohne dass mir wirklich klar war, was ich da machte. Schließlich kamen wir an den Punkt, an dem die Szene zehn Minuten lang war und alles, was ich sonst noch für das neue Stück vorgesehen hatte, immer weiter in den Hintergrund trat. Ich dachte: Wenn ich mit einer Ansammlung von Filmausschnitten die Aufmerksamkeit der Zuschauer 20 Minuten lang halten kann, dann sollte das Konzept für ein ganzes Stück reichen. Ich strich alles, was ich für ‘disconnected’ vorgesehen hatte und änderte den Titel, um keine bestimmte Interpretation des Stücks vorzugeben.

“Rolling” ist mein bislang fragmentarischstes Stück. Mich interessiert, wie die Fragmente sich am Ende zu einem Ganzen fügen. Eine allzu offensichtliche Bedeutung bereitet mir immer Unbehagen. Wenn man zwei Szenen zusammenfügt, ergibt sich plötzlich eine andere Interpretation. Allerdings ist das für mich kein rein intellektuelles Exerzitium, vor allem geht es mir darum, Spaß zu haben, was auch immer das heißt.

 

Die Künste

Ein Grund für meine Liebe zum Film ist, dass darin viele andere Kunstformen zusammenkommen. In “Boogie Nights” etwa ist die Basslinie des Soundtracks im Grunde ein eigenständiger Charakter. Meine besondere Aufmerksamkeit gilt dem Rhythmus, Tanzszenen und bestimmten Themen. Die Sexualität zum Beispiel ist bis heute ein bedeutendes Thema in Filmen, und im Vergleich zur Entwicklung des Sexes im Film scheint das Theater weit hinterher zu hinken. Sehr viele Theaterstücke kommen mir ziemlich trashig vor, wobei mich der Grenzbereich zwischen High Art und Low Art anspricht. Bei “Rolling” gab ich mir selbst einige praktische Vorgaben: Mir ging es um ein Gleichgewicht von tänzerischen und schauspielerischen Partien, und ich wollte keine allzu bekannten Szenen wie das “You talking to me” aus “Taxi Driver”. Ich wusste, was ich nicht wollte, und das ist immer schon mal ein Anfang. Auch an einfachen parodistischen Elementen war mir nicht gelegen, trotzdem gibt es in “Rolling” immer wieder Realitätseinsprengsel. Jemand wie Donald Trump taucht darin auf, weil er verstörender wirkt als jede fiktionale Figur. Einen Satz aus “The Searchers” mit John Wayne – “You speak pretty good American, for a Comanche“ –  könnten in den USA noch heute manche Leute zu einem Ureinwohner Nordamerikas sagen, was diesem Satz eine zugleich seltsame und beängstigende Wirkung verleiht. Als wenig nostalgischem Menschen gefällt mir die Vorstellung, zwischen den Zeiten zu springen. Ich gucke neue Filme und alte, und ich höre aktuelle Musik, aber auch alte. Außerdem schaue ich derzeit intensiv Fernsehserien und bin fasziniert von der Möglichkeit, eine Figur über Jahre hinweg weiterzuentwickeln.

“Meine Beziehung zum Theater war schon immer etwas speziell.”

In gewisser Weise ist diese Produktion das Gegenteil meiner früheren Arbeiten: Während ich bisher in meinen Bühnenproduktionen nach einer filmischen Anmutung strebte, geht es mir jetzt darum, Filmen etwas spezifisch Bühnenhaftes zu verleihen. Meine Beziehung zum Theater war schon immer etwas speziell. Während ich bei “Fassbinder, Faust and the Animists” einen konzeptuellen Ansatz verfolgte, wusste ich zu Beginn des aktuellen Stück selbst nicht genau, wohin es mich führen würde. Das Stück entwickelte sich im freien Austausch mit dem Ensemble, was für mich ein wenig seltsam war, da ich an der Vorstellung einer formalen Logik und an der Illusion von Kontrolle hänge. “Rolling” gleicht einem orchestrierten Delirium. Es ist völlig subjektiv, nicht akademisch. Mein Gedächtnis ist oft wenig zuverlässig, und auch in meinen Erinnerungen gingen die Filme oft wild durcheinander.

Das Unbewusste und die Realität

Ich bin kein besonders spiritueller Mensch, trotzdem vertraue ich einigen Trance- und Hypnosetechniken. Das Unbewusste fasziniert mich. Ich denke, dass das Stück sich je nach der eigenen Stimmung auf der emotionalen Ebene verändert. An einem Abend berühren einen Szenen, die einen an einem anderen Abend kaltlassen und umgekehrt. Wenn ich ins Kino gehe, ist es mir egal, ob bei der Produktion irgendwelche Probleme auftraten. Ich will einfach nur unterhalten werden, was auch immer das heißt. Ich fühle mich zum Beispiel von Bergmans Filmen hervorragend unterhalten, während viele andere sie äußerst deprimierend finden. Manchmal gefallen mir in Filmen auch Dinge, die anderen Menschen Unbehagen bereiten und die ich selbst in der Realität nicht ertragen könnte. So sehe ich etwa gerne Filme über manche Länder, in denen ich mich tatsächlich nur sehr ungern aufhalte. Auch bestimmte Charaktere bereiten mir in Filmen Freude, während sie mir im echten Leben Angst einjagen würden. Viele Schauspieler*innen sagen, dass es ihnen mehr Spaß bringe, einen Bösewicht zu spielen als einen guten Menschen. Aber ich fürchte, dass die Menschen manchmal nicht zwischen Fiktion und Realität unterscheiden können. Immer wieder wird nicht genügend zwischen einem Film und seinem Schöpfer getrennt


Der Vorhang

Ich wollte “Rolling” unbedingt im HAU1 inszenieren, da das Setting möglichst ‘theaterhaft’ sein sollte. Dabei kommen zwei Gestaltungsweisen zum Einsatz, zum einen – wie im Kino – ein die Leinwand umgebender Rahmen, zum anderen eine ‘echte’ Theaterbühne. Die Unterschiede zwischen ihnen sollen im Allgemeinen deutlich erkennbar sein und nur gelegentlich aufgehoben werden.

Aufgezeichnet und editiert von Annika Reith, aus dem Englischen übersetzt von Sven Scheer. (c) HAU Hebbel am Ufer 2019.

 

Michael Laub / Remote Control Productions: “Rolling”

12.–15.6.2019 / HAU1 / Premiere

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