DDR neu erzählen

von Karsten Krampitz

Auch 30 Jahre nach dem Mauerfall ist die Geschichte der DDR noch nicht erzählt. Die offizielle Erinnerungspolitik reduziert das Leben in diesem verschwundenen Land nach wie vor weitgehend auf Täter*innen und Opfer der Stasi. Es wird Zeit, erneut in die Vergangenheit zu blicken, um die komplexen historischen Prozesse sichtbar zu machen – “die Aufarbeitung der Aufarbeitung der DDR-Geschichte”, wie es der Historiker Karsten Krampitz fordert.

Theo Sommer, damals Chefredakteur der Hamburger “Zeit”, schrieb im Jahr 1986: “Das Totalitäre an der DDR ist nicht alldurchdringend.” Das Diktatorische mache sich vor allem unten bemerkbar, “überspitzt bemerkt: Mit Honecker kann man reden; mit dem Parkwächter an der Wartburg nicht”. Eine Beobachtung, die so wohl nicht alle DDR-Bürger geteilt haben. Der Historiker reibt sich die Augen: Einer der einflussreichsten Journalisten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland schwärmte von der Beliebtheit Erich Honeckers: “Die Bürger des anderen deutschen Staates bringen ihm fast so etwas wie stille Verehrung entgegen; in Gesprächen schlägt sie immer wieder durch.” Mit wem genau Theo Sommer gesprochen hatte, ließ er offen. 

Ein ähnlich verzerrtes DDR-Bild fand sich im Westen auch an den Universitäten. Sozialwissenschaftler gingen in den 1980er-Jahren davon aus, dass die DDR ein normaler Industriestaat wäre – nur eben kommunistisch regiert – und dass am Ende der Anpassungsprozesse an die Moderne ein Staatswesen mit irgendwie demokratischen Strukturen entstehen könnte. Gert-Joachim Glaeßner, an der FU Berlin der führende Vertreter der sozialwissenschaftlichen DDR-Forschung, beschrieb noch 1989 – also unmittelbar vor dem Sturz Honeckers – das Ministerium für Staatssicherheit als eine Art Randerscheinung. Neben politischen und militärischen Sicherungsfunktionen, wie sie auch vergleichbare Geheimdienste in westlichen Ländern hätten, habe die Staatssicherheit noch zusätzliche systemspezifische Aufgaben: etwa die Übernahme staatsanwaltschaftlicher Aufgaben oder die Unterrichtung der Staatspartei über Einstellungen und Meinungen in der Bevölkerung “unter anderem mit Hilfe der Demoskopie”. Kein Wort zur Schikane der Stasi gegenüber Oppositionellen, die schon damals bekannt war, kein Wort über Postkontrolle, Inhaftierung und sogar Abschiebung in den Westen. Tatsächlich war der Alltag in der DDR inzwischen ein gänzlich anderer als noch in den 1950er-Jahren, das Privatleben gestaltete sich erheblich freizügiger, auch der Wohlstand hatte sich verbessert. Doch war die DDR deshalb schon auf dem Weg zur Demokratie?

Seit der deutschen Einheit erleben wir nun das andere Extrem: Die offizielle Erinnerungspolitik reduziert das Leben in der DDR allein auf die Täter und Opfer der Stasi. Deren Aktenberge empfand der Kirchenpublizist Reinhard Henkys seinerzeit als Splitterbomben. Man habe den Eindruck, es könne jeden treffen. Überall im öffentlichen Dienst, jedoch nur in Ostdeutschland, liefen die Überprüfungsverfahren der damaligen Gauck-Behörde mit schweren Konsequenzen für das Berufs- und Privatleben. Die Bürger erhielten jetzt Auskunft über die sie betreffenden Stasi-Akten. Dadurch aber gelangten sie auch an Wissen über andere, über Freunde, Nachbarn, Angehörige. Dieses Wissen hat das Leben, hat die Gesellschaft in Ostdeutschland verändert – nicht immer zum Guten. 

Seither wird die DDR im offiziellen Gedenken grundsätzlich falsch erzählt. Im postulierten Geschichtsbild von der kommunistischen Gewaltherrschaft finden sich nur die allerwenigsten Ostdeutschen wieder. Ein Leben aber, das nicht erzählt werden kann, macht Menschen krank. 

Bis heute wird der Erinnerungsdiskurs bestimmt von Institutionen wie der Stasiunterlagenbehörde oder auch der Stasiopfer-Gedenkstätte Hohenschönhausen, die die Perspektive der einstigen Oppositionellen übernommen haben. Nur hatte die Opposition in der DDR erst im Verlauf des Jahres ‘89 eine Massenbasis gewonnen. Im Juni des Vorjahres schätzte das MfS die Zahl der Gegner auf nicht mehr als 2.500 – bei etwas über 16 Millionen Einwohnern. Mit anderen Worten: Im DDR-Diskurs verfügt eine relativ kleine Gruppe über die Deutungshoheit. 

Das Leben der Anderen

Doch was ist mit den Leuten, die sich in der DDR eingerichtet hatten? Sozialismus war ihnen keine Ideologie, sondern ein Fortschritts- und Versorgungsversprechen: auf Schrankwand, Trabbi, Balaton – eine von oben erteilte Garantie, dass es ihnen jedes Jahr ein klein wenig besser ginge, so sie sich an die Spielregeln hielten. Sozialer Aufstieg im Austausch gegen politisches Wohlverhalten. Und ja: Vielen Menschen war dieser Preis zu hoch, das Versprechen zu mager – sie stellten einen Ausreiseantrag oder wurden republikflüchtig oder versuchten es wenigstens. Doch das berühmte Adorno-Aperçu – “Es gibt kein richtiges Leben im falschen” – will so gar nicht auf die DDR passen. Will man vom Leben dort erzählen, greifen die Denkfiguren Täter, Mitläufer und Opfer zu kurz. War denn schon ein Mitläufer, wer ein halbwegs “normales” Leben führen wollte? 

Mary Fulbrook, Professorin für Deutsche Geschichte am University College London, sagt, wer diese Menschen als unmoralische Kollaborateure eines bösen Regimes oder als einfältige Opfer einer Ideologie und Leidtragende der staatlichen Unterdrückung einstufe, der stelle die Art und Weise, wie die ostdeutsche Gesellschaft funktioniert hat, “prinzipiell falsch” dar. Die DDR sei bei Weitem mehr gewesen als nur ein SED-Staat. “Obwohl kein Historiker des Westens versuchen würde, die Sozialgeschichte einer westlichen Gesellschaft allein im Hinblick auf politische Maßnahmen des Regimes und den Widerstand des Volkes dagegen darzustellen, ist die Sozialgeschichte der DDR weitgehend so aufgefasst worden (…)”

Niemand würde die Geschichte Westdeutschlands allein über Polizei, Richter und Regierung erzählen. An dunklen Kapiteln gäbe es sicher genug: die Verfolgung Homosexueller, die Berufsverbote, die Zwangserziehungsheime oder einfach nur das fortgesetzte Wirken der NS-Eliten. Sofort würde der Einwand kommen: Das mag ja stimmen, aber die Geschichte der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit war mehr – Wiederaufbau, Heimkehr der Kriegsgefangenen, sich satt zu essen und zwar richtig satt zu essen, eine bessere Wohnung, der erste Italienurlaub, Bill Haley und so weiter. Warum wird nun bei der Geschichte der DDR so gänzlich anders verfahren? Muss Geschichte nicht als Ganzes angenommen werden? 

Es wird an der Zeit, die DDR neu zu erzählen: ohne sie zu verklären, aber auch ohne sie zu dämonisieren. 

© Karsten Krampitz, im Auftrag des HAU Hebbel am Ufer anlässlich des Festivals “Comrades, I Am Not Ashamed of My Com-munist Past – Erinnerungspolitik 30 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer”, März 2019.