13.-15.11.2014

Die Stimme im Ausnahmezustand

Präsentiert vom Zentrum für Literatur- und Kulturforschung (ZfL) Berlin

Am Anfang war weder Bild noch Schrift, am Anfang war die Stimme. Auch die irdische Existenz des Einzelnen beginnt mit einem Schrei, und sie endet mit dem letzten Atemhauch, dem gleichzeitigen Verlöschen von Leben und Sprechen. In der Stimme ist der Mensch Kreatur und psycho-soziales Wesen zugleich. Als Medium von Ausdruck und Kommunikation sorgt die Stimme für jenes Zusammenspiel von Physis und Logos, das eine sinnvolle, verständliche Rede hervorbringt.

Dabei ist die Synchronie von Laut- und Bedeutungsproduktion nicht die Regel. Zu vielfältig sind die Nuancen und die beteiligten Momente: Lautstärke und Höhe, Geschwindigkeit, Atmen und Stockungen, dialektale und individuelle Färbung. Zu vielfältig ist auch das Spektrum von Artikulationen, das die Stimme erlaubt: zwischen Flüstern und Schreien, zwischen Summen und Pfeifen, Dozieren und Trösten, Gesang und Befehl. In unserer hochtechnologisierten Gesellschaft wird die menschliche Stimme außerdem mehr und mehr apparativ ergänzt oder ersetzt, aufgezeichnet, verstärkt und modifiziert. Computer und Roboter simulieren menschliche Stimmen, und Medizin und Biotechnologie arbeiten an Stimmprothesen. 

Sind Störungen, Grenzfälle und extreme Ausdrucksformen der Stimme vielleicht zahl- und folgenreicher als ihr Normalzustand? Was bedeutet das dann für die ‚Normalität‘ der Stimme? Die dreitägige Tagung Die Stimme im Ausnahmezustand geht diesen Fragen nach und verbindet dabei wissenschaftliche und künstlerische Recherchen. Lebens- und Technikwissenschaftler berichten von der empirisch-experimentellen Stimmforschung: zwischen Stimmenhören und Stimmwiedergabe, zwischen Physiologie und Robotik. Geistes- und Kulturwissenschaftler erkunden die historischen und kulturellen Voraussetzungen, unter denen sowohl die Natürlichkeit der Stimme als auch ihre technischen Bearbeitungen konzipiert werden. Komponisten und Vokalperformer erkunden Ausnahmezustände der Stimme, indem sie mit dem Auseinandertreten von Lautlichkeit und Bedeutung experimentieren und die Stimme ins physische Extrem treiben. Das Festival verbindet Stimmforschungen, Kulturwissenschaft, Performances und Konzerte:
     
Die Stimmkünstlerin Frauke Aulbert singt Stile verschiedenster Genres wie Gamelan, Jazz, Dhrupad, Beatbox und arbeitet mit erweiterten Gesangstechniken wie Ober-/ Untertongesang und Multiphonics. In Vocal Acrobatics lotet sie die klanglichen Möglichkeiten ihrer Stimme aus und öffnet zugleich ein Spektrum Neuer Vokalmusik. Auf dem Programm stehen Jennifer Walshe: G.L.O.R.I.; Matthias Kaul: Silence is my voice (für Stimme und Mundlautsprecher); Cathy Berberian: Stripsody; Giacinto Scelsi: Hô; Frauke Aulbert: Frrr.; John Cage: Sonnekus 2; Georges Aperghis: Nr. 8 aus den Recitations pour voix seule. 

Der deutsch-ungarische Komponist Georg Hajdu erkundet die Grenzbereiche von Musik, Wissenschaft und Programmiertechnik. In seinen Vokal-, Instrumental- und Musiktheater-Kompositionen verbindet er akustische und elektronische Elemente, arbeitet mit Mikrotonalität, algorithmischer Komposition und dem Einsatz von Computernetzwerken. Disposable Me – ein Werk für elf Dispositionen ist eine Uraufführung und wird vorgetragen vom Tenor/Countertenor Gunnar Brandt-Sigurdsson.  

Die Theaterprojekte des Regisseurs Yuval Sharon – Gründer und Leiter des Ensembles The Industry in Los Angeles – bespielen die Übergänge von Oper, Konzert und visuellen Medien. Unter dem Vortragstitel The Disembodied Voice spricht Sharon über seine Regiearbeit "Invisible Cities". In dieser "Invisible Opera for Wireless Headphones" (von Christopher Cerrone nach Italo Calvinos Buch Le città invisibili) setzt er die Zuhörer in Bewegung und schickt sie auf die Suche nach den Sängern und Tänzern der Inszenierung. 

Daniel Dominguez Teruel ist Komponist, Installationskünstler und Musikproduzent. Gemeinsam mit dem Sänger Gunnar Brandt-Sigurdsson realisiert wird die Uraufführung von untitled_18 für Stimme, Live-Elektronik und Video. Damit schließen Dominguez Teruel und Brandt-Sigurdsson an ihre Zusammenarbeit im Video "untitled_7" an, das 2013 den 1. Preis des Wettbewerbs für elekroakustische Musik und Multimedia in Jekaterinenburg erhielt und im Rahmenprogramm des Festivals gezeigt wird. 

Michel van der Aa ist ein multidisziplinärer Künstler: Komponist, Regisseur, Filmemacher und Autor. Sein musikalisches Vokabular umfasst klassische Instrumente, Stimmen, Elektronik, Theater und Video. And how are we today und Miles away sind intime kammermusikalische Werke für Mezzosopran und kleine Instrumentalensembles. Im Anschluss an die Aufführung spricht Michel van der Aa mit Sigrid Weigel über sein Werk, dabei werden Ausschnitte aus seinen Videoarbeiten "One" und "Sunken Garden" gezeigt. 
 

Programmübersicht 13.–15.11.

I. Gesang und Geräusch

Donnerstag, 13.11., ab 14:00 Uhr

Einführung: Sigrid Weigel (ZfL)
Moderation: Daniel Weidner (ZfL)

14:30 Uhr
Doris Kolesch (FU Berlin): Stimmexzesse

15:45 Uhr 
Sigrid Nieberle (Erlangen-Nürnberg): Geräusch im Belcanto 
Sigrid Weigel (ZfL): Die Stimme der Klage 

19:30 Uhr
Frauke Aulbert: Vocal acrobatics 
Uraufführung: Georg Hajdu (Komposition), Gunnar Brandt-Sigurdsson (Stimme)
Disposable me – ein Werk für elf Dispositionen 
 

II. Stimmkörper und körperlose Stimmen

Freitag 14.11., ab 10:30 Uhr

Moderation: Christine Kutschbach (ZfL)
Stefan Willer (ZfL): Stimm-Brüche. Vokale Mutation als Regel und Ausnahme 
Susanne Fuchs (ZAS Berlin): Atmung, Stimme und Dialog. Aus dem Labor der Sprachwissenschaft 

12:00 Uhr
Laryngograph, Jörg Dreyer (ZAS Berlin) 

14:00 Uhr
Moderation: Stefan Willer (ZfL)
André Aleman (Groningen): Hallucinations: Hearing Voices in the Brain
Daniel Weidner (ZfL): “Give ye ear, and hear my voice.” Speaking, Shouting, and Crying in the Prophetic Tradition 

16:00 Uhr 
Christian Grüny (Musikphilosophie, Witten-Herdecke): Schrei und invertierte Stimme. Musik und Folter 

19:30 Uhr
Yuval Sharon: The Disembodied Voice: Vortrag über “Invisible Cities. An Invisible Opera for Wireless Headphones” 
Uraufführung: Daniel Dominguez Terueluntitled_18 (2014) für Stimme, Live-Elektronik und Video. Gunnar Brandt-Sigurdsson (Stimme), Lichtdesign: Victor Fernández De Tejedo Pequeño
 

III. Medialisierte und technische Stimmen

Samstag, 15.11., ab 11:30 Uhr

Moderation: Caroline Sauter (ZfL)
Birgit Griesecke (ZfL): Die Stimme im Kontrapunkt: Glenn Goulds Dokumentarhörspiele 
Britta Lange (HU Berlin): Am Abgrund: Stimmen von Internierten, 1939–1942

15:00 Uhr
Sabine Nessel (Mainz): Mediale Tiere mit und ohne Mikrofon

16:15 Uhr
Moderation: Georg Toepfer (ZfL)
Eduardo Mendel (Oldenburg): „Meine eigene Stimme”: Developing personalized text-to-speech programs
David M. Howard (York, UK): A new performance instrument: The Vocal Tract Organ 

20:00 Uhr
Michel van der Aa
„And how are we today“, vocal work for mezzo-soprano, piano and double bass.
“Miles away”, vocal work for mezzo-soprano, violin, piano and double bass.
Mit: Susanne Kreusch (Mezzosopran), Elissa Lee (Violine), Arnulf Ballhorn (Kontrabass), Byron Knutson (Klavier)
Anschließend Michel van der Aa im Gespräch mit Sigrid Weigel, Videopräsentationen von „One“ (Ausschnitt) und „Sunken Garden“


Während der Tagung im Foyer: 
Gunnar Brandt-Sigurdsson mit einer Komposition von Georges Aperghis:„Recitations No.8 / Laryngoskopie“ (Video)
Daniel Dominguez Teruel: „untitled_7“ (Video)
Sigrid Sigurdsson (Konzept 1964)/ Gunnar Brandt-Sigurdsson (Umsetzung 2014): „Redepausen im Auschwitzprozess“ (Hörstück)
mit Dank für freundliche Unterstützung durch Werner Renz – Fritz Bauer Institut Frankfurt/M

Termine

Mit freundlicher Unterstützung durch die Botschaft des Königreichs der Niederlande.