Wer ist denn überhaupt die Menschheit? fragt Anta Helena Recke mit ihrer neuen Arbeit, einer Koproduktion mit dem HAU. Ausgehend von Sigmund Freuds Text “Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse” werden die von ihm diagnostizierten drei Kränkungen der Menschheit – die Erkenntnis, dass der Mensch nicht der Mittelpunkt des Universums ist, dass er vom Affen abstammt und dass er ein Unterbewusstsein hat, das er nicht steuern kann – um eine vierte Kränkung erweitert. Die Tatsache, dass die größte Illusion darin besteht, von einer Menschheit auszugehen, wird hartnäckig übersehen. Vielleicht, weil das eine der tiefgreifendsten Kränkungen des “menschlichen Egos” darstellen würde. Gerade das gegenwärtig zu beobachtende globale Wiedererstarken faschistischer Kräfte, Phänomene wie “Men’s Right Activism” und das selbstbewusste Auftreten von White-Supremacy-Gruppierungen zeigen, wie tiefgreifend die Illusion einer weißen männlichen Menschheit im weißen Körper verankert ist.
In Reckes “Die Kränkungen der Menschheit” legt sich ein Bild über das andere und lässt einen hybriden Raum zwischen Museum, Zoologischem Garten und Labor entstehen: eine Horde Affen, die die Bühne bevölkert; eine kleine Museumsgruppe auf einem Streifzug; eine große Gruppe von Menschen, die Muster in den Raum zeichnet. Der Abend führt uns an jene fragilen Momente, an denen eine Vorstellung von Welt durch eine andere abgelöst wird. Dabei geht es um das Zeigen, das Ordnen und den Wunsch zu verstehen. Es ist ein Stück über eine Gesellschaft, die von ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt wird.
Die Mitwirkenden aus Berlin sind: Ainoa Badji, Tâmera Bak, Claudia Basrawi, Hiyam Biary, Jen Dessin, Selen Ericok, Florence Eyok, Fennet Habte, Amie Jammeh, Ceyda Keskin, Shabnam Kohestani, Isabel Kwarteng-Acheampong, Yen Lee, Jie-Liang Lin, Melanie Lyn, Adele Medaa, Celina Mohamed, Auro Orso, Cintia Rangel Martins, Céline Rodrigues, Jucelene Santos Costa, Nima Sené, Gelareh Shahpar, Adyam Tesfamariam, Quynh Tran, Frederika Tsai, Awa Wassa und Yeliz Yigit.
Eingeladen zum Theatertreffen 2020. Das sagt die Jury:
Anta Helena Recke fügt den von Sigmund Freud festgehaltenen drei “Kränkungen der Menschheit” (1. Der Mensch stammt vom Affen ab; 2. Die Sonne ist der Mittelpunkt des Universums; 3. Der Mensch ist dem Unbewussen ausgeliefert) eine weitere hinzu: Der europäische, weiße Mann ist doch nicht der Inbegriff des Menschen. In ihrer White-Supremacy-Kritik stößt die Regisseurin beim Publikum eine Reflexion über den jeweils eigenen Blick und die damit verbundenen Dekodierungsmuster an. Schauplatz ist ein Kunstmuseum, in dem ein Gemälde zunächst nachgestellt und ein anderes Bild später von einer Besucher:innengruppe gemeinschaftlich diskutiert wird. Die weitgehend meditative Performance hinterfragt auf sublime Weise Betrachtungsnormen und damit Muster der Rezeption und Repräsentation. Recke touchiert postkoloniale Diskursfelder – von Restitution bis zum weißen Normdenken. Sie arbeitet hier mit ungewöhnlichen, energetischen Mitteln von Präsenz und Absenz.
Im Anschluss an die Vorstellung am 9.2.: Artist Talk mit Necati Öziri.
Necati Öziri ist seit 2017 Dramaturg des Theatertreffens und Leiter des Internationalen Forums. Er war von 2013 bis 2018 Teil der Dramaturgie des Maxim Gorki Theaters, davon zwei Jahre als künstlerischer Leiter des Studio Я. Er arbeitet auch als Autor. Sein Stück “GET DEUTSCH OR DIE TRYIN’” wurde eingeladen zum Heidelberger Stückemarkt 2018.