7.–19.6.2016

Projeto Brasil

The Sky Is Already Falling

Die politische Debatte in Brasilien hat sich in den letzten Monaten zunehmend aufgeheizt. Das Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff sehen viele Brasilianer*innen als einen Putschversuch von rechts. So hat der Übergangspräsident Michel Temer als einen der ersten Schritte der neuen Regierung versucht, das Kulturministerium abzuschaffen – nach einer internationalen Protestwelle von Künstler*innen wurde dieser Vorschlag zurückgenommen. 

Obwohl in den letzten 13 Jahren unter der Regierung der Arbeiter-Partei von Lula und Rousseff ein Viertel der brasilianischen Gesamtbevölkerung in die Mittelschicht aufgestiegen ist, wächst in Brasilien die soziale Ungleichheit vor allem auch hinsichtlich geschlechterspezifischer und ethnischer Merkmale. Die Mittelschicht, die sich Dienstpersonal, Autos und gute Ausbildung immer seltener leisten kann, protestiert massiv gegen die in Korruptionsskandale verstrickten Regierenden. 

Es gibt viele Gründe, sich mit dem größten Land Lateinamerikas auseinanderzusetzen. Brasilien, eine der sieben größten Volkswirtschaften der Welt, konnte zwar die Wirtschaftskrise erfolgreich meistern. In der Phase der Expansion wurde indes auf ökologische Bestände und indigene Lebensweisen keine Rücksicht genommen. Davi Kopenawa Yanomami, der brasilianische Aktivist der Organisation ‘Hutukara‘, die sich weltweit für die Rechte der Yanomami-Indigenen einsetzt, schildert in seinem Buch “The Falling Sky“ die Zerstörung des Waldes in Brasilien. Gerade erst im Herbst letzten Jahres wurde die Existenzweise der indigenen Bevölkerung durch die größte Umweltkatastrophe des Landes eminent gefährdet: Nach einem Dammbruch begrub eine giftige, eisenerzhaltige Schlammlawine nicht nur Menschen und Ortschaften in der Gegend Minais Gerais sprichwörtlich unter sich, sondern auch den Rio Doce, einer der wichtigsten Trinkwasserlieferanten im Südosten Brasiliens, wurde biologisch zu einem toten Fluss gemacht. Die Abholzung des Amazonas-Regenwalds und der Mata Atlântica, des Regenwalds an der Ostküste Brasiliens, die eng im Verbund mit europäischen Unternehmen und Absatzmärkten zusammenhängt, zeigt unsere Verstrickung in die brasilianischen Politiken. 

Für “Projeto Brasil – The Sky Is Already Falling“ lädt das HAU Hebbel am Ufer– im Verbund mit verschiedenen Produktionshäusern – zahlreiche Künstler*innen ein, ihre Sicht auf die heutige Lage in Brasilien zu teilen. Das Festival eröffnet mit dem neuen Stück der Choreografin Lia Rodrigues “Para que o céu não caia / For the Sky Not to Fall”.  Inspiriert von indigenen Lehren, fragt sie sich, was angesichts von Umweltkatastrophen heute zu tun sei. Die Kraft von Ritualen, die Fragilität des Körpers und seine Funktion als Medium sind auch Gegenstand der Soli von Michelle Moura und Thiago Granato und des aktuellen Stücks der Gruppe Cena 11 unter der langjährigen Leitung von Tänzer und Choreograf Alejandro Ahmed

Im Gegensatz dazu wird die Schnelllebigkeit und auch die Lebensfreude Brasiliens vielleicht am besten durch die zehn jungen Tänzer*innen verkörpert, mit denen Alice Ripoll einen mitreißend-energetischen Abend zum jüngsten brasilianischen Tanzphänomen, dem Passinho, präsentiert. Weitere Einblicke in das Lebensgefühl junger Brasilianer*innen geben der Theatermarathon des gefeierten Regisseurs Leonardo Moreira und das Theater- und Live-Film-Event von Christiane Jatahy.

In seinem Vortrag zum Klimawandel zeigt der Architekt und Forscher Paulo Tavares die Konflikte zwischen Ökologie und Politik im Amazonasgebiet auf. Das Verschwinden indigener Kultur dokumentieren die Ausstellungen “Indigenous Voices“ sowie Arbeiten des Bildenden Künstlers Paulo Nazareth, die im HAU2 zu sehen sein werden. 

Während des Festivals wird es zahlreiche Aktionen und Interventionen von beteiligten Künstler*innen geben, anlässlich der aktuellen politischen Lage in Brasilien und um mit den Zuschauer*innen ins Gespräch zu kommen. Als informeller Treffpunkt für diesen Dialog fungiert während des Festivals die Hängematten-Installation des brasilianischen Künstler*innenkollektivs OPAVIVARÁ! auf dem Rasen vor dem HAU2. Mit der Veranstaltung “What Happened, Brazil?“ am 14. Juni wird das HAU2 zu einem offenen Plenum, bei dem sich alle interessierten Bürger*innen zum  politischen Status  Quo Brasilien äußern und miteinander in Austausch treten können.

Begleitend zum Festival ist eine neue Ausgabe der HAU-Publikationsreihe erschienen. Darin ein Gespräch von Lia Rodrigues und Nayse Lopéz, Texte Ian Steinman, Rodrigo Nunes, ein Blogbeitrag von BlackWomenofBrazil.co, ein exklusiver Auszug aus der im Herbst 2016 im Merve-Verlag erscheinenden deutschen Übersetzung von Eduardo Viveiros de Castros "Kannibalische Metaphysiken" und Illustrationen des Künstlers Paulo Nazareth

Termine

“Projeto Brasil” ist ein Gemeinschaftsprojekt der fünf Produktionshäuser HAU Hebbel am Ufer Berlin, HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste Dresden, Tanzhaus NRW Düsseldorf, Künstlerhaus Mousonturm Frankfurt und Kampnagel Hamburg, gefördert von der Kulturstiftung des Bundes. Mit Unterstützung des Goethe-Instituts und in Kooperation mit Serviço Social do Comércio de São Paulo (SESC SP).