Kontexterzwingung und Aufeinanderangewiesensein: Dichtes Milieu und Live Feuilleton

Ein Werbetext von Diedrich Diederichsen

Es geschieht nicht sehr oft, dass man sein soziales Umfeld relativ komplett nach einer Veranstaltung auf der Straße trifft, in Diskussionen vertieft, mit und ohne Flasche oder Glas in der Hand, sitzend, stehend, lehnend – und doch kommen sie alle aus zwei verschiedenen, in einigen Fällen sogar aus drei verschiedenen Veranstaltungen: ein Theaterstück, eine Tanz-Performance und ein experimentelles Konzert. Manchmal ist die soziale Dichte, das Alle-sind-hier-Gefühl auch dadurch zu erklären, dass in den drei verschiedenen Häuser des HAU Hebbel am Ufer, von denen ich hier spreche, gemeinsam ein Festival veranstaltet wurde, welches thematisch-künstlerisch-zielgruppentechnisch verknüpft ein einigermaßen mit einander vertrautes Publikum angelockt hat. Oft sind es aber tatsächlich auch weit entfernte Dinge – eine vorübergehend residente Theatertruppe aus den USA im einen Haus, ein queeres Reenactment-Projekt im anderen und ein Doom-Metal-Konzert im dritten, das dazu führt, dass subkulturelle Szenen, die sich teilweise auch schon einmal näher waren, bei einem Drink im vierten Haus begegnen, dem WAU, der Gastronomie, vor oder in der man nach den Veranstaltungen meistens landet.

Seit den 1990er Jahren gibt es in Berlin eine Reihe von neuen hybriden Theatergenres, die den Umstand widerspiegeln, dass die Stadt seit dieser Zeit die früher verteilten und lokal spezialisierten kulturellen Szenen der alten Bundesrepublik und der alten DDR aufnehmen oder wie man heute sagt: integrieren musste. Was früher als kritische Theorie in Frankfurt am Main groß war, als Pop-Musik-Underground in Hamburg und als Bildende-Kunst-Szene in Köln, war nun in Berlin gelandet; wer über Kino in München debattierte und an Theaterformen in Bochum oder Bremen schraubte, wer in Anklam oder Leipzig an einer ganz anderen sozialistischen Kunst arbeitet oder in Ost-Berlin Medienkunst zusammenmontierte, sie alle konvergierten ins damals so neue Berlin, ohne das weitermachen zu können und zu wollen, was vorher lokal entwickelt worden war. Überlebende, zwischengenutzte und revitalisierte Orte gab es viele und neben den üblichen und bekannten Erfolgsstories von Techno, Russendisko und Volksbühne, gab es auch sehr viele kleinere Entwicklungen zwischen HipHop-Labels und Tanz-Festivals, die in großer Zahl nicht nur für die immense Beliebtheit sorgen, die die Stadt nicht nur bei Touristen aus aller Welt gefunden hat, sondern vor allem Synthesen generierten: künstlerische, aktivistische, journalistische, organisatorische Synthesen – die als solche nicht sofort sichtbar waren. Man nutzt ja einstweilen alte Gebäude und damit auch den Schatten ihrer jeweiligen institutionellen Vergangenheit.

Mit dem HAU Hebbel am Ufer entstand dann erstmals eine Institution, die auf diese Gemengelage reagierte; nicht nur auf inhaltlicher, sondern vor allem gerade auf institutioneller Ebene. Das HAU als mehrteilige Verkettung von Orten artikulierte, indem es drei Spielorte, die für sehr unterschiedliche Formate darstellender Kunst im weitesten Sinne geeignet sind, dass das, was man an diesen Orten macht zusammengehört, ohne dass es dafür offensichtliche Gründe geben musste: es entwickelte eine Form. Was waren nun die Dinge, die zusammengehörten? Von Anfang an war es im HAU-Programm verankert, um Theaterveranstaltungen so genannte thematische Wochenenden zu veranstalten, die oft weitreichende, aus Diskussionen und künstlerischen, ja musikalischen Darbietungen zu Themen, die das Theaterprogramm streifte, zusammengesetzt waren.

Ein Live Feuilleton: kurzfristig und brisant kuratierte Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen zu Themen und Personen, die zur Stunde die relevanten Debatten bestimmen.

Im HAU wurde dies zu einem Genre mit dazugehöriger Institution. Das territorial-funktionale Prinzip der drei Häuser mit praktisch benachbarter Gastronomie entspricht in einer eigenartig formalen Weise, dem, was das HAU ausmacht in einem viel angemesseneren Sinne als der meistens verwendete Begriff der Interdisziplinarität. Denn interdisziplinär ist vieles: und wenn man nur sagt, dass man aus den Bereichen oder Genres Tanz, Theater, Performance, Musik, Theoriediskussion und vielen anderen ein Programm machen will, dann könnte man auch ein ganz anderes Programm machen als das, was hier gemacht wird. Es scheint also etwas Stärkeres zu geben, das dieses Programm bestimmt und das mit der besonderen Verknüpftheit der drei Häuser zu tun hat.

Da wäre zum einen das Aufeinanderangewiesensein diskursiver und künstlerischer Formate. Das HAU hat an eine an vielen kleinen und großen Häusern, im Kunst- wie im Theaterbereich entwickelte Kultur der Mischformen aufgegriffen, in denen Kunst nicht länger als nachgereichte oder vorauseilende Demonstration oder Illustration theoretischer Überlegungen auftreten will, noch sich die Kunsttheorie immer wieder der Beispiele bedient, an deren Zustandekommen ihre Protagonist*innen eh beteiligt waren. Eine solche zirkelschlüssige Spirale der Legitimationsdiskurse war immer ein Problem der 1990er Jahre, in der sich Theorie- und Kunstproduktion in neuer Weise für einander interessierten. Im HAU gibt es aber ein Nebeneinander, das zur Überprüfung des eigenen Status einer Aussage, eines Akts immer aufs Neue zwingt. Denn nebenan findet gerade etwas Anderes statt – warum rede ich nur, zeige Bilder, ziehe mich aus oder singe, wenn ich doch auch kriechen, diskutieren oder tanzen könnte? Die faule Ausrede der "Gattung" Lecture-Performance, die gern hervorgezogen wird, wenn diese Überlegungen nicht stattfinden, kann durch die ständig ausgestellte Nachbarschaft-im-Unterschied, die das HAU zelebriert, gar nicht erst aufkommen.

Zum zweiten aber wäre von einer interdisziplinären Praxis zu reden, die nichts mit dem gleichnamigen Begriffsfetisch zu tun hat; der neoliberalen Freude am Wuchern und Vernetzen, sondern, im Gegenteil, von inhaltlicher und künstlerischer Nähe zwischen den unterschiedlichen Genres lebt. Das reicht von den gut eingespielten Importen aus USA und EU - wenn ich etwa das Nature Theater of Oklahoma sehe und kurz darauf ein Konzert von Acts eines berühmten höchstavancierten Post-Elektronik-Labels wie der Wiener editions MEGO ergibt das einen völlig unerwarteten Sinn – über die Erschließung anderer künstlerischer Weltgegenden – eine Stärke der letzten Jahre: Länder/Regionenschwerpunkte außerhalb von NATO-Kultur – bis zu den ausgiebigen Thematisierungen sehr spezieller historischer und zugleich völlig neuer Praktiken: man denke an legendäre “Live-Film“-Wochenende, das nicht nur der Figur Jack Smith und seinen vielfältigen, heute so viele inspirierenden historischen Praktiken gewidmet war, sondern daraus auch einen Begriff ableitet, auf den sich dann Gegenwartskünstler*innen tatsächlich aller Genres beziehen konnten - und endet immer noch nicht bei den Dingen, die ich ein Live Feuilleton nennen würde und die für mich zu den wichtigsten Aspekten des HAU gehören: kurzfristig und brisant kuratierte Vortrags- und Diskussionsveranstaltungen zu Themen und Personen, die zur Stunde die relevanten Debatten bestimmen. In all den genannten Fällen kommt etwas zusammen, das die eingespielten institutionell wohl beheimateten Kunstgattungen und -disziplinen nicht zusammenbringen würden, das aber längst kollaboriert und kommuniziert und dafür keine normativen Begriffsfetische, die mit “Inter“ operieren, braucht: es ist längst eine kulturelle Realität, der bisher eine institutionelle Form gefehlt hatte.

Auch, was gerade nicht mein Kontext, meine Szene, meine Sprache ist wird zu meinem potenziellen Kontext, wird zu einer potenziellen Herausforderung.

Womit wir zum dritten Punkt kämen: natürlich hat längst nicht alles mit allem zu tun, was am HAU stattfindet und wenn ich jeden Abend dort tatsächlich mein kulturelles Umfeld treffen würde und könnte, hätte ich längst die Stadt verlassen. Sehr viel häufiger bin ich ganz alleine dort und frage mich im Foyer des HAU 2, versunken in die Betrachtung der vorbeifahrenden U1, wieso zu dieser Veranstaltung jetzt nicht diese oder jene Person erschienen ist. Denn drittens ist bei aller kultureller Nähe vieles überraschend und unbekannt und das hat einen weiteren, wie ich finde, sehr zentralen Vorteil: es führt zu einer Art Erzwingung von Kontext, die es an anderen, oft auch mit sehr vielen Sparten operierenden Häusern nicht gibt.

Denn, wenn die große Nähe der Milieus und der Themen, der Hot Topics und der intensiven Konzerte immer wieder erlebt wird, bekommt auch die Nichtnähe, das Unbekannt-Bleiben oder Nichtverstehen einen anderen Rang. Auch, was gerade nicht mein Kontext, meine Szene, meine Sprache ist wird zu meinem potenziellen Kontext, wird zu einer potenziellen Herausforderung. Dies kann man nicht erreichen, wenn man einfach nur offen, tolerant und multidisziplinär ist. Denn dann kann man ja alles prima nebeneinander laufen lassen, wie in alten Kiez-Kinos, die Rentnernachmittage und das Kinderprogramm vorzüglich neben Action-Thriller und Kino-für-Erwachsene zeigten. Die Grunderfahrung, dass mich nebenan ebenso angeht wie hier, wo ich gerade sitze, ist zentral für die Rezipient*innen-Haltung des HAU. Seine drei Orte allein haben das nicht geschafft, sondern nur eine Programmierung, die immer wieder dazu beiträgt, dass das eine ins andere greift.

(c) HAU Hebbel am Ufer / Diedrich Diederichsen, 2016