“Soll das ein Vogel sein?” Der Mehringplatz im Wandel der Zeiten

Von Markus Liske und Manja Präkels

Ein Text aus der Zeitung zum Festival “Berlin bleibt #4 – Treffpunkt Mehringplatz”

“Liiiiiiicht!”, hallt es durch die Häuserschlucht am südlichen Ende der Friedrichstraße. Sie fängt am Mehringplatz an, dort befindet sich die Hausnummer 1. Noch einmal schriller, fordernder: “Liiiiiicht!” Schreiende Menschen sind keine Besonderheit hier. Die Neugierde treibt uns trotzdem auf den Balkon. Zu spät. Die Ruferin ist im Birkenwäldchen hinterm Hochhaus gegenüber verschwunden. Brüllt weiter. Licht. Alle brauchen Licht. Mehr Licht. Vor allem der Teil unserer Nachbarn1, der nach hinten raus wohnt. Denen hat ein sechsstöckiger Neubau vor zwei Jahren die Dunkelheit der Hinterhöfe alter Mietskasernen an die Frühstückstische gebracht, ihre Balkone der Sinnlosigkeit preisgegeben. Aber nun, da die Tage länger werden, das Gras grüner und der Brunnen am Theodor-Wolff-Platz wieder sprudelt, werden wir uns alle wieder draußen treffen. Vielleicht sogar am Mehringplatz selbst, wo sich die Bauarbeiten nach zehn Jahren ihrem Ende zuneigen. Auf jeden Fall unter freiem Himmel. In der Berliner Luft.

21. Dezember 1924, der kürzeste Tag des Jahres: Noch einmal zieht eine Menschenmenge mit roten Fahnen vom Halleschen Tor kommend über den Belle-Alliance-Platz und weiter durch das Berliner Zeitungsviertel zwischen Wilhelm- und Lindenstraße. Sechs Jahre ist es her, dass revoltierende Arbeiter im sogenannten Spartakus-Aufstand die Redaktionen der Zeitungen besetzten, der SPD-Vorsitzende und Chef der Übergangsregierung Friedrich Ebert sie vom Militär zusammenschießen ließ und sein “Bluthund” Gustav Noske (ebenfalls SPD) den Befehl gab, die Köpfe des Widerstands Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu ermorden. Auftakt für ein landesweites Massaker an den Revolutionären, das mit der blutigen Niederschlagung der Bayerischen Räterepublik am 1. Mai 1919 in München ein furchtbares Finale finden sollte. Nun aber scheint die Revolution für ein paar Stunden zurück in Berlin zu sein, erschallen erneut kämpferische Lieder in den Straßen der Südlichen Friedrichstadt. Mit kritischer Miene beäugt der Chef­redakteur des liberalen “Berliner Tageblatts” Theodor Wolff das Treiben von einem Fenster seiner Redaktion aus. Doch nicht die Zeitungen sind diesmal das Ziel des Aufmarsches, sondern der Anhalter Bahnhof, wo ein großes Polizeiaufgebot die Menge bereits erwartet. Es kommt zu Tumulten, Köpfe brechen unter Knüppeln, ein Maschinengewehr wird in Stellung gebracht. Da endlich läuft der Zug aus München ein, und die Demonstranten tragen ein schmächtiges, rotbärtiges Männlein auf ihren Schultern aus dem Bahnhof. Es ist der wohl schillerndste und faszinierendste Anführer der deutschen Revolutionäre – der anarchistische Dichter und Bohemien Erich Mühsam, Gründer der Bayerischen Räterepublik. Bereits am 7. November 1918 – zwei Tage vor Karl Liebknecht und Philipp Scheidemann in Berlin – hat er in München die Revolution ausgerufen. Nun ist er zurück in seiner Geburtsstadt Berlin, und noch einmal fassen die Revolutionäre Hoffnung. Doch die Jahre der Festungshaft haben Mühsam gezeichnet. Schwach ist sein Wedeln mit der roten Fahne, Mangelernährung hat ihm den Magen ruiniert, die Augen tränen unablässig. Schnell schaffen die Genossen ihn und seine Frau Zenzl zum bereitstehenden Auto, fahren mit ihnen Richtung Hallesches Tor davon. Vielleicht denkt Müh­sam auf der Fahrt an die Gedichte und Artikel, die er vor dem Krieg für die hier ansässigen Blätter verfasste. Vielleicht auch daran, dass Theodor Wolff ihm noch immer ein Honorar schuldet. Oder er fragt sich, was nun aus ihm werden soll. Die Revolution jedenfalls ist vorbei, und er weiß das.

Schon bevor die Pandemie die Welt veränderte, schliefen allnächtlich Men­­schen unter den Hochbahngleisen am Halleschen Tor, den Luftgeschossen am Mehringplatz und zwischen Büschen am Kanal. Vereinzelte und Elen­de ohne feste Bleibe, denen manch­mal von Nachbarinnen geholfen wurde. Ein Kaffee am Morgen. Eine Mahlzeit zur Nacht. Gespräche über Alltäg­liches. Gegenüber vom U-Bahn-Eingang hatte ein Mann seine Wohnung nach­gestellt: Couch, Tisch, Lampe, Bett, Bücherregal. An Weihnachten wurde festlich dekoriert. Leute blieben stehen und rieben sich die Augen. War das echt oder Kunst oder echte Kunst? Selbst die Ordnungsmacht ließ ihn gewähren. Ein Zimmer ohne Wände ist schwer zu räumen. Im Laufe der maskierten Ausnahmezeit zog dieses Leben und Lebenlassen am Halleschen Ufer, die durch die Baustellen begünstigte Unübersichtlichkeit des Platzes immer mehr Menschen im Elend an. Jeden Morgen irren Süchtige durchs Viertel, den Dealern auf ihrer ersten Runde hinterher. Nachts werden Türen aufgebrochen. Und manchmal liegt einer wie tot auf dem kalten Beton der Keller und Treppenhäuser. Das Schwerste ist das Aushalten. Müssen.

Gegenüber vom U-Bahn-Eingang hatte ein Mann seine Wohnung nachgestellt: Couch, Tisch, Lampe, Bett, Bücher­regal. An Weihnachten wurde festlich dekoriert. Leute blieben stehen und rieben sich die Augen. War das echt oder Kunst oder echte Kunst? Selbst die Ordnungsmacht ließ ihn gewähren. Ein Zimmer ohne Wände ist schwer zu räumen.

Als im Jahr 1688 die Bauarbeiten für eine mondäne neue Friedrichstadt beginnen, ist Berlin noch ziemlich überschaubar. Es regiert der brandenburgische Kurfürst Friedrich III., der erst 13 Jahre später König von Preußen werden wird. Von freier Presse kann noch keine Rede sein, schon gar nicht von einem Zeitungsviertel oder einer Revolution, die sämtliche deutsche Fürsten vom Thron stoßen wird. 137 Jahre später allerdings, als das Rondell am Halleschen Tor in Erinnerung an den Sieg über Napoleon den Namen Belle-­Alliance-Platz erhält, ist die Friedrichstadt bereits ein ausgesprochen literarischer Ort. In den Salons der Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Rahel Varnhagen von Ense versammeln sich die intellektuellen Größen der Zeit. Nachts treibt der trinkfreudige Literatenzirkel Serapionsbrüder um Adalbert von Chamisso und E.T.A. Hoffmann sein Unwesen. Hoffmann wohnt in der Taubenstraße, Chamisso ab 1822 in der Friedrichstraße, unweit des heutigen Theodor-Wolff-Parks. Die Saufgelage finden meist bei Lutter & Wegner am Gendarmenmarkt statt. Beerdigt werden sie schließlich auf den Friedhöfen am Halleschen Tor, nur wenige Meter entfernt vom Belle-Alliance-Platz. Die Friedenssäule in seiner Mitte kannten sie allerdings noch nicht. Sie wurde erst nach ihrem Tod, von 1840 bis 1843, errichtet, als Erstes von drei Säulenmonumenten, die an entscheidende Momente der preußischen Geschichte erinnern sollten – die Friedenssäule an die “Befreiungskriege”, die Invalidensäule an die Revolutionsjahre 1848/49 und schließlich die Siegessäule an die “Einigungskriege”, die zur Gründung jenes Deutschen Kaiserreichs geführt hatten, dessen Ende Erich Mühsam im November 1919 proklamieren sollte. Literatur, Krieg und Revolution – am heutigen Mehringplatz liegt das alles nah beieinander.

Sieger und Besiegte. Auf historischen Aufnahmen der zerstörten Stadt bleibt mein Blick stets an den Frauen kleben. Jede könnte meine Großmutter sein, die auf ihrer Flucht aus dem heutigen Polen einige Wochen in den zerbombten Ruinen hauste. “Unter jedem Dach ein Ach”, beschrieben die Berlinerinnen ihre Situation damals lakonisch. Aber Großmutters Geschichten über ihr eigenes “Ach” in diesem Chor haben sich tief in meinen Körper eingeschrieben. Dabei wusste ich, als ich ihnen lauschte, noch gar nicht, dass auch ich eines Tages nach Berlin fliehen würde. Vor den Nazis der Neunziger, die meine Mitschüler gewesen waren und plötzlich Jagd auf mich machten. Mein erstes Gespräch mit einer Nachbarin am Mehringplatz führte ich am Hauseingang, wo damals noch ein Bild der zerbombten Friedrichstadt hing. Wir versuchten, uns in den Trümmern zu orientieren: “Das muss der Mehringplatz sein!” Sie lachte heiser, sagte: “Wie Bagdad.” Nach den Irakern kamen Syrer, und inzwischen sieht man viele Autos mit ukrainischen Kennzeichen im Kampf um die raren Parkplätze. Ergraute Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen Sowjetunion sind schon länger hier. Ukrainer? Russen? Moldawier? Dem Paketboten ist es egal. Ich bewundere seine Fähigkeit, die unterschiedlichen Namen Stockwerken und Gesichtern zuordnen zu können.

Es ist der 3. Februar 1945, als alliierte Bomber den Krieg zum Mehringplatz bringen, mit Streu- und Brandbomben die Südliche Friedrichstadt nahezu vollständig zerstören. Was das Viertel einst ausgemacht hat, ist zu diesem Zeitpunkt jedoch längst Geschichte. ­Neben Chamissos früherem Wohnhaus hatte die SA gleich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ein erstes Konzentrationslager eröffnet. Die Redakteure und Autoren des Zeitungsviertels sind im Exil oder tot. Erich Mühsam war 1934 im KZ Oranienburg bestialisch ermordet worden. Theodor Wolff hatte auf der Flucht immerhin noch seinen am Belle-Alliance-Platz spielenden Roman “Die Schwimmerin” beenden können, bevor auch er gefasst und nach Moabit überstellt wurde, wo er 1943 an einer unbehandelten Krankheit starb. Nun, nachdem die Bomben auch die Häuser vernichtet haben, die ihrem freien Geist einst Heimstatt gewesen waren, erstreckt sich nördlich des Halleschen Tors nur noch eine schier endlose Brachfläche, eine städtebauliche Stunde null, die von der Teilung Berlins für Jahrzehnte konserviert wird. Erst Ende der Sechzigerjahre entsteht der heutige Mehringplatz – als überdimensioniertes Sozialbauviertel für einen künstlichen Stadtrand. Die Mauer aber, die diese Randlage schuf, ist schon lange nicht mehr da, hat das Viertel mit ihrem Verschwinden erneut ins Zentrum gerückt und den Mehringplatz zu einem städtebaulichen Stolperstein gemacht, der die von Norden heranziehende hohle Restauration früheren Glanzes an die Vernichtung all dessen gemahnt, was hier einst war. Zu einem Störenfried aus Beton, dessen heutige Bewohner eigene Geschichten von Revolution, Krieg und Flucht zu erzählen haben. Einem literarischen Ort der Gegenwart, an dem die Geister der Vergangenheit unerkannt herumspuken dürfen, ohne dass sie jemand in hübsche, teure Flaschen sperrt. Klingklong. Die Trinker prosten sich in der Sonne zu. Eine Bank weiter rauchen arabische Großmütter Shisha. Beobachten und schweigen. Manchmal eilt der SPD-Generalsekretär mit einem Schawarma von Al Sultan vorbei. Er fällt nicht weiter auf. “Soll das ein Vogel sein?” Das Mädchen deutet auf die geflügelte Figur in der Mitte des Platzes, den sie noch nie betreten hat, so lange schon ist er von Bauzäunen umstellt, eine Wüste aus Staub und Lärm, verbotene Zone ihrer Kinderwelt. Der Vater schaut hinauf zur fast 20 Meter über allem thronenden Siegesgöttin auf ihrer Säule aus schlesischem Marmor, zögert, sagt: “Ja.” Das Mädchen runzelt die Stirn. “Und was für ein Vogel?”

 Auf Wunsch der Autor:innen wurde in diesem Text nicht gegendert.

Foto: Jürgen Fehrmann