“Ich versuche Assoziationsräume zu ermöglichen”

Gedanken zu “Aurora” von Adrian Figueroa

Für “Aurora” hat Adrian Figueroa Gespräche mit Drogenkonsument*innen, ihren Angehörigen, Therapierenden und Selbsthilfegruppen geführt. Nach “Stress” (2017) ist es das zweite Theaterrechercheprojekt des Regisseurs und Video-Künstlers am HAU. Hier spricht er über seine Arbeitsweise, den Begriff “Dokumentartheater” und ein nötiges Level an Abstraktion.

Über Rechercheprojekte wie “Stress” und “Aurora”
Komplexe gesellschaftliche Probleme nehmen wir durch Filter wahr. Unsere persönliche Wahrnehmung wird dabei meist von medial inszenierten Bildern geprägt, die sich an Klischees bedienen, diese reproduzieren und kaum Raum für Zwischentöne zulassen. Daraus folgen Diskurse, die nicht nur das Denken und Handeln des Einzelnen bestimmen, sondern auch zu einer gesellschaftspolitischen Praxis führen. Am Ende schauen wir durch einen Schleier auf die “Betroffenen”, die zu Objekten degradiert werden. Ich versuche, diesen Schleier zu entlüften, auch meinen ganz persönlichen, und die Menschen hinter den komplexen Fassaden zu sehen.

Ich glaube, etwas dokumentieren zu wollen, gaukelt uns eine Sachlichkeit vor, die es nicht geben kann.Klar gibt es unzählige Statistiken und wissenschaftliche Untersuchungen über Drogentote, Therapieansätze, familiäre Co-Abhängigkeitsverhältnisse, Substitionsmaßnahmen und so weiter und so fort. Das ist auch wichtig, aber mir geht es nicht um die Analyse des letzten Glieds in der Kette, sondern darum, zu verstehen, warum jemand, der seit über 20 Jahren konsumiert, sagt: “Heroin hat mir das Leben gerettet!” 

Ich versuche Assoziationsräume zu ermöglichen, die Prozesshaftigkeit eines Lernens, Verstehens, einer Akzeptanz oder einer Ablehnung oder was auch immer aufzuzeigen. Und diese Prozesshaftigkeit versuche ich auf die Bühne zu bringen, nicht nur mit dem authentischen Textmaterial, sondern auch mit Körperlichkeit und einer audio-visuellen Ebene, die auf einer Abstraktion aufbauen. 

Über Abstraktion
Ich kann weder behaupten und mir schon gar nicht anmaßen, bei einem solchen Thema das letzte Wort, das Ultimative zu formulieren. Nach stundenlangen Gesprächen mit den Interviewten hatte ich natürlich ein ganz konkretes Bild im Kopf, das aber nur meins war. Wie kann ich dieses Bild zerpflücken, damit ich mich nicht auf mein ganz persönliches dünnes Eis begebe? Bei den Interviews war ich teilweise überfordert angesichts vieler Perspektiven. Ich konnte sie nicht auf Anhieb einordnen und genau dieses Gefühl wollte ich mit einfließen lassen in die Abstraktion in der künstlerischen Umsetzung. Wenn jemand mir sagt, dass Abstinenz nie ihr Ziel war und das mit einer solchen Wucht, dann sehe ich da auch eine Körperlichkeit. Ich sehe den Stolz, wenn mein Gegenüber mir erzählt, welche Lieder sich in seinem verschorften Hirn abspielen, wenn er auf Entzug ist. Ich versuche mich dem anzunähern und das kann ich glaube ich nur dadurch, indem ich Abstand nehme, Assoziationsräume ermögliche, dies zumindest versuche.

Wenn du dein Diktiergerät einschaltest und dein Gegenüber, egal ob Konsument*in, Familienangehörige*r, Therapeut*in oder wer auch immer anfängt zu erzählen, dann hast du mit komplexen Lebensrealitäten zu tun. In dem Moment denkst du gar nicht an die Abstraktion später in der Inszenierung, diese geben dir deine Gesprächspartner*innen mehr oder weniger vor, indem sie zum Beispiel über “Seelenhygiene”, “Tinnitus im Körper”, “Gips um den Kopf” und “Datenautobahnen im verschorften Hirn” reden, was du zuerst einmal verstehen und einordnen musst. Und genau das meine ich mit Prozesshaftigkeit. Daraus entstehen der Text, die Choreografie, die Musik, die Video-Ebene, das Bühnenbild und alles andere.

Über den Arbeitsprozess
Ich habe anfangs nur ein Gefühl, ein Bild im Kopf, das ich versuche zu vermitteln anhand der Interviews. Ich versuche den Geist der Gespräche, die Essenz dessen zu vermitteln, zu übersetzen mit allen Beteiligten. Das ist gerade auch bei “Aurora” der Prozess mit meiner Bühnenbildnerin Irina, mit Amigo, der choreografiert, und Aérea und Miguel, die die musikalische Ebene gestalten. Im Vorfeld redeten wir viel darüber, rein theoretisch, klar, aber alles entsteht im Probenprozess. Vor allem mit den Schauspieler*innen, die ja bei der Entstehung gar nicht involviert sind in diese Prozesse. Nach den ersten Durchläufen nach drei oder vier Wochen entstehen die besten Ideen in Anwesenheit aller, genau darin befinden wir uns gerade und das ist die spannendste Phase, in der sich alle einbringen, das fordere ich auch bewusst heraus. Dieser Suchprozess hilft mir sehr und ich habe das Gefühl, am kreativsten sind wir, wenn alle durcheinander reden. Ich will das nicht missen.

Über persönliche Erfahrungen, die einfließen 
Die ersten zehn Tage saßen wir am Tisch und haben den Text gelesen, intensiv darüber geredet. Natürlich haben wir auch über unsere persönlichen Erfahrungen gesprochen. Ich persönlich kenne keinen Menschen, der*die keine Drogenerfahrungen gehabt hätte. Wir alle sind mit dem Thema irgendwie verbunden, haben eine Meinung dazu. Darüber haben wir viel geredet, unsere Erfahrungen ausgetauscht. Im Fokus stehen aber die Texte.

Über Reaktionen der Interviewpartner*innen
Bei “Stress” haben die Jungs leider keinen Freigang für die Premiere bekommen, deswegen haben wir eine Sondervorführung in der JVA gemacht. Das war überwältigend! Bei “Aurora” haben alle, die ich interviewt habe, zugesagt, dass sie zur Premiere kommen. Darüber freue ich mich besonders und bin ganz gespannt, was sie sagen.

Das Gespräch führte Tunçay Kulaoğlu.

Adrian Figueroa

Aurora
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