Wir, das sind Abertausende

von Sandra Bello

Für Sandra Bello war das Leben in Brasilien schon immer ein Kampf. Damit sieht sich die politische Aktivistin nicht allein. Und warnt in SPEX die Regierung Bolsonaro: Wir schaffen auch euch noch!

Für mich als lesbische Schwarze Frau fängt das Problem nicht erst mit Jair Bolsonaros Wahl zum brasilianischen Staatspräsidenten an. Für uns Schwarze, Indigene und queers war das Leben in Brasilien schon immer unerträglich. Es gab keinen Moment in der Geschichte dieses Landes, in dem wir nicht diskriminiert worden wären. Brasilien wurde von Weißen kolonialisiert und meine Vorfahren wurden hier als Sklav_innen ausgebeutet und misshandelt. Nachdem die Sklaverei 1888 gesetzlich abgeschafft wurde, wusste niemand, was mit uns geschehen sollte. Man sagte uns: Ihr seid jetzt frei, seht zu, wie ihr damit klarkommt. Also haben wir die Berge besetzt und Häuser gebaut, so sind die Favelas entstanden, in denen die Menschen bis heute in größter Armut leben.

In diesen Slums ist die Arbeitslosigkeit so hoch und der Bildungsstand so niedrig, dass die Jugendlichen mit anderen Mitteln für eine bessere Zukunft kämpfen müssen. Schließlich wollen auch sie gesellschaftlich anerkannt werden, Geld verdienen und gute Kleidung tragen. Ihr Streben nach wirtschaftlicher Verbesserung wurde irgendwann von kriminellen Milizen ausgenutzt, was den Drogenhandel in die Favelas brachte. Und mit ihm das Vorurteil, dass alle Bewohner_innen der Favelas gefährlich sind. Ein Vorurteil, das übrigens bis heute als Grund dafür angeführt wird, die Armee und Polizei aufzurüsten.

Der militante Regierungsstil ist eindeutig eine Tradition der weißen Elite, die mit Mord, Folter und Unterdrückung um ihren Machterhalt kämpft.

Leider gehört es zur brasilianischen Geschichte, dass die Demokratie immer wieder von militanten Kräften übernommen wird. Wir Brasilianer_innen haben zwischen 1964 und 1985 eine Militärdiktatur erlebt – und müssen uns heute mit ihrem Sympathisanten Bolsonaro herumschlagen. Man könnte also sagen, dass der militante Regierungsstil eindeutig eine Tradition der weißen Elite ist, die mit Mord, Folter und Unterdrückung um ihren Machterhalt kämpft. Am besten erging es uns noch unter dem sozialdemokratischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, dessen erklärtes Ziel es war, einen sozialen Staat aufzubauen. Und was ist heute? Sitzt er wegen Korruptionsvorwürfen im Gefängnis, ohne dass es dafür irgendwelche Beweise gäbe. Mit solchen Methoden will Bolsonaro die Linke unsichtbar und stumm machen – und hat zum Teil auch Erfolg damit.

Für mich ist die klassische Linke mitverantwortlich für den Aufstieg Bolsonaros. Diese Weißen haben sich nie wirklich dafür interessiert, wie es dem marginalisierten und sozial schwachen Teil der Bevölkerung geht. Auch unter Lula da Silva und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff wurden die Favelas von der Armee besetzt. Bolsonaro konnte nur deshalb an die Macht kommen, weil die Linke diese Leerstelle offen ließ und er es wie kein anderer verstand, Angst und Misstrauen innerhalb der Bevölkerung zu schüren. Natürlich darf man dabei nicht vergessen, dass er mächtige Unterstützer_innen auf seiner Seite hatte: Die Pfingstbewegung und andere ultrakonservative Kräfte, denen daran gelegen war, das Patriarchat zu verstärken.

Brasilien wird längst wie eine Diktatur regiert

Ich finde, es ist höchste Zeit, dass die linken Parteien selbstkritisch analysieren, wie es so weit kommen konnte. Die Partido dos Trabalhadores (PT) muss sich zum Beispiel fragen, warum sie Dilma Rousseff während ihrer Amtsenthebung nicht unterstützt hat. Stattdessen wurde die ehemalige Präsidentin aus den eigenen Reihen heraus fertiggemacht. Sie musste sich von ihren eigenen Leuten anhören, wie aggressiv und rhetorisch schlecht sie sei. Für mich ist dieses respektlose Verhalten schlicht und einfach misogyner Natur. Es zeigt mal wieder, dass Männer die Welt regieren, egal, ob sie politisch links, rechts oder in der Mitte zu verorten sind.

Und ihretwegen müssen wir jetzt mit einem Faschisten leben, durch den sich die Diskriminierung gegenüber Frauen, Schwarzen, Indigenen und LGBTQ-Personen noch einmal um ein Vielfaches verschlimmert hat. Mein Heimatland ist nur noch äußerlich betrachtet eine Demokratie, in seinem Inneren wird es längst mit den Methoden einer Diktatur regiert. Unter Bolsonaro herrscht endgültig das Recht des Stärkeren. Er hat nicht nur das Polizeiaufgebot massiv vergrößert und Polizist_innen Straffreiheit garantiert, wenn sie aus Angst, Überraschung oder emotionaler Überwältigung auf Zivilist_innen schießen. Er hat auch erlaubt, dass von nun an jede_r zu Selbstverteidigungszwecken eine Waffe tragen darf, weshalb die Mordrate, insbesondere an queeren Personen, natürlich um ein Vielfaches gestiegen ist.

Hinzu kommen Kürzungen bei den Sozialleistungen, der Unterstützung bei Kindergartenplätzen und die Streichung sämtlicher Gelder für die Förder- und Schutzprogramme der queeren Szene. Mit diesen Schritten macht Bolsonaro klar, wo die Reise hingeht: Frauen sollen zurück an den Herd und mit der Salonfähigkeit von Homophobie, Xenophobie und Lesbophobie wurden wir endgültig für vogelfrei erklärt.

Doch es gibt einen Funken Hoffnung: Bolsonaro ist nicht von der Mehrheit der Bevölkerung gewählt worden, sein Sieg ist schlichte Mathematik. Insbesondere die Städte im Nordosten Brasiliens haben ihm ihre Stimme verweigert, und auch in der Politik gibt es zahlreiche Brasilianer_innen, die nichts mit diesem Faschisten zu tun haben wollen: die Anarchisten, die Partido Socialista Brasileiro (PSB), die Partido Socialismo e Liberdade (PSOL), die Partido Democrático Trabalhista (PDT) und die Partido dos Trabalhadores (PT). Zwischen Bolsonaro und seinem Herausforderer Fernando Haddad (PT) lagen zum Glück nur zehn Prozent – ein vergleichsweise knappes Ergebnis, das mich nicht verzweifeln lässt. Umso mehr, weil bis heute trans Personen und Schwarze Frauen in den Parlamenten aller Ebenen dieses Landes sitzen und dort unerschrocken für unsere Rechte kämpfen. Allerdings sind es bis jetzt zu wenige, als dass sie wirklich etwas ausrichten könnten. Ich wünschte, wir hätten eine andere Linke, dann könnten wir einen Putschversuch starten. Doch die Linke ist momentan zu schwach, um Bolsonaro zu stürzen

Die Elite muss sich vorsehen, wenn sie es mit uns aufnehmen will

Aber wir werden weiter Widerstand leisten. Nicht nur gegen Bolsonaro, sondern gegenüber der gesamten weißen Elite Brasiliens, die uns mit ihrem kolonialen Verhalten das Leben zur Hölle macht. Denn über eins müssen sich diese Faschisten und ihre Lakai_innen im Klaren sein: Unser Leben ist Widerstand. Wir sind es gewohnt, zu kämpfen und wir haben schon Schlimmeres überlebt. Die Elite muss sich vorsehen, wenn sie es mit uns aufnehmen will. Wir, das sind Abertausende, die auf dieses miese Spiel von Macht und Unterdrückung keine Lust mehr haben. Wir, das sind Abertausende, die das staatliche System mithilfe von sozialen Bewegungen zunehmend unterwandern und irgendwann zum Einsturz bringen werden.

Unser Leben ist Widerstand. Wir sind es gewohnt, zu kämpfen und wir haben schon Schlimmeres überlebt.

Wir, das sind zum Beispiel Ilú Obá De Min, ein Künstlerkollektiv und Karnevalblock aus São Paulo, der aus Hunderten Schwarzen Frauen besteht, die mit ihren an Candomblé angelehnten Performances an bedeutsame Schwarze Frauen der Geschichte erinnern. Wir, das ist die Schwarze Vereinigung Parelha Luiza, der es zu verdanken ist, dass ihre Leiterin Erika Malonguinha (PSOL) trotz geringer finanzieller Ressourcen für den Wahlkampf erst kürzlich ins Stadtparlament São Paulos gewählt wurde. Wir, das ist die revolutionäre Landlosenbewegung M.S.T., die in ganz Brasilien Farmen besetzt hat, um dort Avocados, schwarze Bohnen und Wirkstoffe für Arzneimittel anzubauen – und das, obwohl bereits viele von ihnen ermordet worden sind.

Als Wahlberlinerin macht es mich fassungslos, wie sehr sich die deutsche Regierung zu Bolsonaros faschistoider Politik in Schweigen hüllt. Ich vermute, sie reagiert nicht, weil Deutschland mit seinen Waffenlieferungen nach Brasilien gutes Geld verdient. Deshalb ist es umso wichtiger, dass die dort fehlende Solidarität aus der deutschen Bevölkerung kommt. Auch ich kämpfe mit meinen Mitteln von Berlin aus, als Teil des Kollektivs Quilombo Allee, das sich für die Sichtbarkeit und Gleichbehandlung von Schwarzen Menschen in der Gesellschaft einsetzt. Unser Name geht übrigens auf die brasilianischen Gemeinschaften geflohener Sklav_innen zurück, die sich in sogenannten Quilombos ökonomisch, sozial und politisch organisiert haben. In dem festen Glauben daran, dass wir nur zusammen stark genug sind, politische Forderungen zu stellen, bieten wir Künstlerresidenzen an und richten Podiumsdiskussionen, Filmabende und Kunstausstellungen aus. Ich bin überzeugt, dass man allein nichts bewirken kann. In der Gruppe aber alles. 

* Sandra Bello, 59, wurde in einer Favela in Rio de Janeiro geboren. Die politische Aktivistin setzt sich seit jungen Jahren für die Rechte von Schwarzen Frauen und queeren Personen in Brasilien ein. Bello lebt heute in Berlin.

Protokoll: Anna Fastabend

(c) spex/Sandra Bello, 2019. Dieser Text erschien zuerst im Rahmen einer Themenwoche Brasilien auf spex.de.

Im Programm:

  • Marcelo Evelin / Demolition Incorporada

    A invenção da maldade / Die Erfindung der Boshaftigkeit
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  • Lia Rodrigues

    Fúria / Wut
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  • Brasilien: Die Entstehung eines neuen Widerstands / Brasil: A emergência de uma nova resistência

    Mit Adriana Schneider Alcure, Sandra Bello, Marissa Lobo und Lia Rodrigues / Moderation: Flavia Meireles  

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