Gesten in Tanz verwandeln

Interview mit Nedjma Hadj Benchelabi und Shaymaa Shoukry

Nach dem Launch im Jahr 2019 zeigt auch die zweite Ausgabe des Projekts “Un|controlled Gestures” 2022, kuratiert von Nedjma Hadj Benchelabi und Shaymaa Shoukry, Arbeiten junger Cho­reo­graf*innen und Tänzer*innen aus Ägypten, Libanon, Marokko, Tunesien sowie den palästinensischen Autonomiegebieten. Sie sind in Residenzen in Kairo und Berlin zusammengekommen, um neue Kreationen im Feld des zeitgenössischen Tanzes und dessen Schnittstellen zu anderen Kunstformen zu erarbeiten. Ein Gespräch mit den beiden Kuratorinnen.

Bitte stellt euch kurz vor.

Nedjma Hadj Benchelabi: Mein Name ist Nedjma Hadj Benchelabi, ich bin Kuratorin und Dramaturgin. Ich bin in Brüssel ansässig und arbeite mit Choreograf*innen mit Fokus auf die darstellenden Künste und zeitgenössischen Tanz.

Shaymaa Shoukry: Hallo, ich heiße Shaymaa Shoukry, ich bin Tänzerin und Choreografin. Ich komme aus Ägypten und lebe in Kairo. Ich habe mich sehr über die Einladung von Nedjma gefreut – danke, dass ich hier sein und die Gruppe beim künstlerischen Prozess begleiten kann.

Was bedeutet der Titel “Un|controlled Gestures” für euch?

Nedjma: Tatsächlich existierte der Titel bereits. Wir haben einige Jahre vor Covid schon einen ersten Teil veröffentlicht. Das erste Mal, dass wir über das Projekt nachdachten, war mit einem Kollegen des Goethe-Instituts in Kairo und Anna Mülter (ehemalige Kuratorin am HAU und künstlerische Leiterin des Festivals Theaterformen, Anm. d. Red.). Wir dachten darüber nach, wie wir Gesten erforschen können, die unkontrolliert sind. Unkontrolliert haben wir im weitesten Sinne aufgefasst: unkontrolliert durch die Gesellschaft, durch die Religion, die Art, wie wir uns selbst kontrollieren. Es ist ein Weg, Bewegung und neue Partituren, neue Begrifflichkeiten zu erforschen und vielleicht auch jene Begriffe zu nutzen, die bereits existieren, die aber noch nicht auf der Bühne zu sehen sind. Wie können wir also diese Gesten in die darstellende Kunst bringen und zu den bekannten Sprachen im Tanz hinzufügen? Darum ging es in der ersten Ausgabe. Weil es so wichtig ist, die Kreation und den Schaffensprozess zu unterstützen, dachten wir daran, diese erste Ausgabe fortzusetzen und eine zweite mit einer anderen Gruppe von Künstler*innen zu gestalten. Ich lud diesmal Shaymaa ein, mit mir gemeinsam das Projekt und den Schaffensprozess von elf Künstler*innen zu betreuen.

Shaymaa: Da alle Projekte von Tänzer*innen aus dem Nahen Osten stammen, ist es für mich, als sei es bereits in der Kultur eingebettet: Wie nutzen wir Gesten und wie können wir dies in Tanz umwandeln und verkörpern, so dass wir eine Sprache für Bewegung und Tanz finden? Die Idee von Kontrolle und Bewusstsein oder von spontaner Bewegung ist eine andere Ebene, durch die wir Tanz und Bewegung betrachten. Wir beobachten, welche Bewegungen bewusst durchgeführt werden, was absichtlich ist und wie zwischen diesen beiden vermittelt wird. Der Titel reflektiert, was bewusst und was absichtlich ist und wie wir dazwischen eine Brücke bauen. Es geht darum, wie wir auf den Sprachen des Körpers und der Kultur aufbauen, zumal jeder Körper seine eigene Sprache besitzt. So verstehe ich den Titel im weitesten Sinne. Ich mag das abgesetzte “un”, da es mit Opposition und Dualität spielt.

Was bedeutet es für euch und die Teilnehmer*innen, in Berlin zu sein?

Nedjma: Eine Art Rückzug vom Alltag, in dem wir Distanz von unserem gewohnten Umfeld haben. Hauptsächlich sollen wir die Möglichkeit bekommen, uns auf jedes Projekt zu konzentrieren. Und dann können wir in Berlin am HAU natürlich auch die anderen Künstler*innen kennenlernen, wir können andere Performances sehen. Wir können von der kulturellen Szene hier profitieren und diese entdecken. Die Künstler*innen sind nicht nur hier, um aufzutreten, sie sind für etwa zweieinhalb Wochen hier und das gibt ihnen die Zeit, andere künstlerische Praktiken zu entdecken, nicht nur im Bereich der darstellenden Künste, sondern auch die bildenden Künste. Die Berliner Kulturszene ist so reichhaltig und ich hoffe, dass dies ihre Vorstellungskraft beflügelt.

Shaymaa: Für manche von uns wird damit ein Traum wahr. Die Möglichkeit zu haben, ihre Arbeit auf so einer Bühne zu zeigen und die Idee verfolgen zu können, alle technischen Aspekte der Arbeit so früh in der Residenz bereits integrieren zu können. Die Tänzer*innen haben Zugang zu den Räumlichkeiten und können mit Aspekten in Dialog treten, die abseits ihres Tanzes im eigenen Studio liegen. Für mich ist das sehr bedeutend und auch ein großartiges Geschenk, denn normalerweise ist die Zeit auf der Bühne begrenzt, wenn du deine Arbeit zeigst. Ich denke, dass dies den teilnehmenden Künstler*innen in der Zukunft einige Möglichkeiten eröffnen wird.

Was erwartet das Publikum an den drei Abenden im Dezember? Warum sollten sie die Veranstaltungen nicht verpassen?

Nedjma: Es sind neun künstlerische Projekte, an jedem Abend sind drei zu sehen. Wir haben eine Art kleinen Schwerpunkt gesetzt, es ist ein work in process. Wir teilen mit euch und ihr werdet großzügig mit uns sein, gemeinsam mit uns sein und unsere Reise anerkennen. Die Tänzer*innen arbeiten hart und geben ihr Bestes für diese Präsentation. Wie ich sagte, wenn du jemanden siehst, der*die sich bewegt und tanzt, möchtest du vielleicht nicht unbedingt mittanzen, aber du beginnst, dir Dinge über dich selbst und der Gesellschaft, in der du lebst, vorzustellen. Tanz kann dich zum Träumen bringen und das ist so wichtig. Er lässt dich darüber nachdenken, wo wir gemeinsam stehen und wie wir gemeinsam sein können. An unseren Abenden zusammen wird die Entschleunigung der Zeit das Thema sein. Es geht darum, in welchem Verhältnis wir zur Zeit stehen und wie wir uns entschleunigen können.

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“Un|controlled Gestures – 2nd Edition”
Mit Abdallah Damra, Aїda Jamal, Lori Kharpoutlian, Mehdi Dahkan, nasa4nasa, Nermin Habib, Synda Jebali & Sara Dziri, Yara Boustany, Ziad Wallace

Kuratiert von Nedjma Hadj Benchelabi & Shaymaa Shoukry

15.–17.12.2022 / HAU3

Details

Eine Initiative des Goethe-Instituts in Zusammenarbeit mit dem HAU Hebbel am Ufer.

Foto: Lori Kharpoutlian