“Wir haben das Moos eingeladen, uns zu bewegen.”

Fünf Fragen an Angela Vitovec zu “Mossbelly”

Du bist eine seit vielen Jahren mit dem HAU Hebbel am Ufer assoziierte Künstlerin. Unter anderem waren Arbeiten wie “Körper ohne Macht” (2015), “Yew” (2018) und “The Nature of Us” (2019) hier zu sehen, wobei “Yew” und “The Nature of Us” in Kollaboration mit Jared Gradinger entstanden.   “Mossbelly” ist deine neueste Arbeit, welche im Studio des HAU2 in einem sehr immersiven, das Publikum fast schon umarmenden Setting uraufgeführt wird. Was verbirgt sich dahinter?
Seit Jahren arbeite ich mit verschiedensten Formen von Bewusstsein zusammen. Besonderes Interesse liegt dabei auf der Zusammenarbeit mit verschiedenen Formen von Pflanzenbewusstsein, mit welchen ich auch künstlerisch kollaboriere. Die Arbeit mit Pflanzen hat subtil eine Aversion gegen künstliches Licht mit sich gebracht, sodass meine Arbeiten meist im Freien oder bei Tageslicht stattgefunden haben und stattfinden. Mit “Mossbelly” wollte ich nun ein Stück kreieren, das choreografisch reduziert und fokussiert sein sollte, aber gleichzeitig nicht in einer Black Box stattfindet, stattdessen also Tageslicht. Das HAU2-Studio mit seiner großen Fensterfront, die in die Baumkronen ragt, eignet sich da hervorragend. Gemeinsam mit David Herman haben wir dort einen Raum entworfen, der es den Zuschauer*innen erlaubt, selbst Teil der Körperlandschaft zu werden, um so das Moos ganz nah an sich heranlassen zu können. 

Wie hast Du das Bewegungsmaterial für “Mossbelly” erarbeitet? 
Das Bewegungsmaterial haben wir durch intensive Begegnungen mit dem Moos erarbeitet, vor allem durch die Praxis der Trituration (Zerreibung): das stundenlange Zerreiben einer Pflanze, das mir von Shelley Etkin überliefert wurde, die es wiederum von Aune Kallinen erhalten hat. Daraus entwickelte ich eine hybride Praxis des Zerreibens und der Bewegungsforschung im kontinuierlichen Dialog und geteilter Praxis mit Shelley Etkin. 
Für “Mossbelly” haben wir also direkt in der Sphäre der Pflanze Bewegungsforschung betrieben und das Moos eingeladen, durch unsere Körper zu inkarnieren, uns zu bewegen, uns zu träumen. 
Die Liebe von Moos zum Wasser und zu den Ahnen hat dann durch unsere Körper diesen immerwährenden Regen entstehen lassen, den ich dem Moos durch unseren Tanz zurück schenken wollte. Moos hat eine vitale und sich ständig im Jetzt verortende Qualität und gleichzeitig diese uralte drachige Ahnen-Energie, also Energie, die bis zum Anbeginn aller Zeiten zurückzuführen ist. Das finde ich choreografisch sehr reizvoll. So versuchen wir mit “Mossbelly”, das pulsierende Jetzt mit einer tiefen Linie in die Vergangenheit zu ehren. 

Welche Qualität findest Du in der Pflanze Moos? Also warum diese tiefe Beschäftigung mit Moos?
Moos ist die erste Pflanze, die vom Wasser aufs Land gegangen ist. Es war überwältigend für mich, einer Energie des “wir gehen los, auch wenn wir nicht wissen, wohin” zu begegnen, einer Kraft des gigantischen Aufbruchs. Welch unglaubliches Veränderungspotenzial in dieser Pflanze steckt. Und trotzdem zeigt uns Moos nicht den Weg oder eine klare Evolution. Da ist etwas, was für uns geheimnisvoll bleibt, dieser Quantensprung. Das inspiriert mich auch im Hinblick auf ein Leben in anderen Systemen auf dieser Welt. 
Mit Moos begegnete ich einer Pflanze, die utopisches Wissen über eine nicht-aggressive Ausdehnung und ein nachhaltiges Leben in Zwischenräumen zu teilen hat, die uns lehrt, anderen Raum zu geben und der Boden für andere zu sein. Die Beziehung von Moos zum Wasser und der Übergang vom Wasser zum Land bringt uns zurück zu unseren Anfängen und unseren übermenschlichen Vorfahren.
Moos hat sich diese Qualität des “come closer!” und irgendwie konnte ich von dieser Beziehung nicht lassen. Es hat mich tiefer und tiefer oder weiter und weiter reingezogen. Schließlich liegt ja auch die Tiefe in der Oberfläche im Moos. 

Kürzlich hast Du Deinen Namen geändert. Dies hat auch etwas mit einer Begegnung zu tun, welche Du während einer Trituration erlebt hast. Möchtest Du dazu mehr erzählen?
Im Oktober 2020 spürte ich bei der Zerreibung der Eiche eine Präsenz im Raum. Und tief aus meinem Inneren tauchte die Gewissheit auf, dass es die Energie meines Großvaters war. Meine Mutter und ich haben ihn nie kennen gelernt. Sein Name war Leopold Vitovec. Ich hatte noch nie in meinem Leben einen Kontakt mit einem Toten gespürt, aber er war stark und ohne Zweifel. Meine Großmutter war mit meiner Mutter schwanger, als mein Großvater, ein deutscher Soldat an der russischen Front, es nicht mehr aushielt und sich in die Hand schoss. Er wurde von seinen Kameraden denunziert und in ein deutsches Kriegsverbrecherlager gesteckt. Die Familie meiner Großmutter drängte daraufhin meine Großmutter, ihren Mann zu verlassen, was sie auch tat. 
Als ich der Eiche begegnete, fühlte ich durch sie sehr intensiv diesen Großvater, ich spürte sein Wesen, seine fröhliche und lustige Art. Seine Feinfühligkeit. Wie groß er war. Ein wenig melancholisch, aber er liebte das Leben und das Lachen. Eine wirklich warme Energie. Und ich habe auch gespürt, dass er sich nicht für mich zeigt. Das war ein seltsames Gefühl. Ich begriff dann, dass ich schwanger bin und dass dieser Großvater für das Wesen, das in meinem Bauch wächst, auftaucht, sich ausrichtet um ihm von hinten den Rücken zu stärken. Jetzt weiß ich und das soll wohl typisch für die Eiche sein, dass diese mich mit den verlorenen Mitgliedern meines nächsten Familienstammbaums in Verbindung gebracht hat. Ich wollte meinen vergessenen Großvater ehren, indem ich seinen Nachnamen annehme: Vitovec. 

Was sind die fünf wichtigsten Quellen für “Mossbelly”? 
Absurderweise versuche ich immer mich nicht zu sehr von anderen Menschen inspirieren zu lassen. Vor allem dann, wenn ich versuche mit Pflanzen in Kontakt zu kommen und mit ihnen zu arbeiten. Deswegen kann ich hierzu nicht viel sagen. Ich habe z.B. drei Ausgaben von “Gathering Moss” von Robin Wall Kimmerer zu Hause, ein Buch, welches mir Freund*innen gerne schenken. Und ich freue mich drauf, es zu lesen, wenn mein eigener Prozess mit dem Moos zur Ruhe kommt. Ich hatte überhaupt kein Bedürfnis, es während der Arbeit zu lesen. Ich liebe es, mir eine gewisse Naivität zu erhalten und meine Frontallappen nicht noch mehr mit menschlichen Stimmen zu füllen. 

Angela Vitovec aka Angela Schubot
Mossbelly

25.–28.5.2023 / HAU2

Weitere Informationen

Die Fragen stellte Petra Poelzl, Kuratorin für Tanz und Performance am HAU Hebbel am Ufer.