Die fünfte Wand

Von Hito Steyerl, aus dem Englischen von Birgit Mennel

Die englische Fassung dieses Texts schrieb die Künstlerin Hito Steyerl im Auftrag des HAU Hebbel am Ufer anlässlich des Relaunchs der digitalen Bühne HAU4 im November 2021.
 

Die fünfte Wand öffnet sich auf ein Meer aus Pixeln.
Die fünfte Wand ist hier und anderswo.
Die fünfte Wand ist das Fenster in eine korporative Wüste.
Die fünfte Wand ist nicht/jetzt.

Die Pandemie hat viele in eine andere raumzeitliche Dimension verdrängt – ein weiteres Level Bildschirm basierter Extraktion. Leute haben erstaunt bemerkt, dass die Wände, die sie einschließen, zu Kommunikationsmitteln wurden. Ihre Mauern sind von Kabeln durchzogen, die in ein Labyrinth aus Steckern, Leitungen und Radioverbindungen führen. Ein aus Bits, proprietärer Infrastruktur und Codes bestehender Raum, der Menschen trennt und Kommunikation filtert. Umzäunt von Zugangscodes, Logins und Abstandsregeln hat die Pandemie den Leuten nur die Wahl gelassen, auf korporativen Bühnen zu performen und dadurch lesbar und transparent zu werden.

Die fünfte Wand umschließt kein Theater der Grausamkeit, sondern ein Theater der Extraktion.
Die fünfte Wand zeigt keine:n Zuschauer:in, sondern verbirgt eine:n User:in.
Die fünfte Wand löst keinen V-Effekt, sondern ein VR-Gefühl aus.
Die fünfte Wand tauscht den Souffleusekasten gegen eine monopolistische Plattform.
Vor der fünften Wand verwandelt sich jede:r in eine Bühne.

Die vierte Wand wird historisch als unsichtbare, imaginierte Wand definiert: eine Theaterkonvention, die den:die Schauspieler:in von dem:der Zuschauer:in trennt. Die vierte Wand ist auf einer Seite transparent. Während die Zuschauer:innen durch sie hindurchsehen können, tun die Schauspieler:innen so, als sähen sie sie nicht. Die vierte Wand markierte früher die unsichtbare Grenze zwischen Realität und Fiktion. Sich durch sie hindurch an das Publikum zu wenden, galt als “Durchbrechen” der vierten Wand.

Die Choreografien der fünften Wand sind bioelektrisch,
Nicht biomechanisch.
Es gibt keine Akteur:innen, sondern Agent:innen.
In einem Spektrum aus Partikeln und biochemischer Organisation
zeigt sie Schwärme und Ensembles
anstelle von Stars und Statist:innen.

Die fünfte Wand ist ein multifunktionaler Raum, der mit digitalen Gig-Arbeiter:innen geteilt wird, die Ornamente der Produktion bilden und von Satellitentrabanten aus beobachtet werden. Arbeiter:innen, die durch SMS-Tonsignale zusammengetrieben und durch ständige Rückkoppelungsschleifen und ausbeuterische Optimierung angetrieben werden.

Die fünfte Wand ist nicht Teil der Fabrik,
Sondern des kommenden Uberlieferando-Meta-Reichs.
Sie orientiert sich an Volkswirtschaften, die immer zu spät dran sind
Mit Nullstunden-Verträgen, Mindestlöhnen,
Standardmäßig zur falschen Zeit am falschen Ort.
Die fünfte Wand ist exmersiv,
Impletiv,
Tiktokular,
Nicht siedlerkolonial, toxisch,
Immer schon entfremdet
Und darüber hinaus
Dämpft sie alle Schreie.

Die fünfte Bühne findet in allen Dimensionen digitaler Extraktion und Kolonisierung statt. Sie ereignet sich in der ursprünglichen Akkumulation im digitalen Raum. Sie ereignet sich als Folge von profitablem Populismus und der Klickstraktion – in feindlichem Territorium.

Wenn Du mich durch die fünfte Wand hindurch ansiehst,
Werden sich die Blicklinien unserer Augen verfehlen
Aber meine Kreditkarte wird eine Verbindung aufbauen
Alle Gefühle sind real,
Alle Bewegungen simuliert,
Alle E-Motionen e-kontrolliert.

Die fünfte Wand ist nur eine Schicht eines im Bau befindlichen korporativen Metaversums. Wo Zahlungen und Leidenschaften über ASMR-Klicks verbunden werden. Sie erstarren zu digitalen Waren, verwaisten rotierenden 3D-Modellen mit kunstvoll applizierten Einschusslöchern in Form von Markenlogos. Das Metaversum metastasiert den Kollaps gemeinschaftlicher Infrastrukturen und geteilter Grundlagen.

Das Zeichen an der fünften Wand
Ist das Logo seines Betriebssystems.
Sie könnte eine extravagante Lightshow sozialer Dynamiken und Kräfte abbilden.
Oder einen kaputten Link,
Oder Kryptosammeltrophäen,
Oder gar nichts menschlich Intelligibles.

Die fünfte Wand zu durchbrechen heißt also, die korporative Besatzung zu durchbrechen. Eine Infrastruktur aufzubauen, zu entwerfen und zu erhalten, die quelloffen und Teil der Commons ist. Die vorrangigsten Aufgaben des digitalen Theaters sind der Aufbau und die Grundlagenarbeit, das Erschaffen eines Hinter-den-Kulissen, die Performance des Commoning. Digitales Theater kann mit Fingern statt mit Datensegmenten performt werden. Es kann Daten-Leviathane durch Tunnel umgehen, um sich unter Bildschirmen hinweg die Hände zu reichen.

Bild: NewfrontEars