Fiddler! A Musical

Interview mit Ariel Efraim Ashbel

Vor zehn Jahren zeigten Ariel Efraim Ashbel and friends ihre erste in Deutschland produzierte Arbeit “All white people look the same to me” im HAU3. Nun beendet die Gruppe das Jubiläumsjahr mit ihrer bisher größten Show: “Fiddler! A Musical” ist eine musikalische Extravaganza, die durch die Traditionen jüdischer Performance-Kunst des 20. Jahrhunderts reist. Im Interview mit Romm Lewkowicz spricht Ariel Ashbel über die Entstehung, über Trauer und bedingungsloses Mitgefühl.

Wie ist die Idee für “Fiddler! A Musical” entstanden?

Am Anfang war es nur ein Scherz. Wir haben einen Förderantrag geschrieben und fanden “Fiddler on the Roof” als Titel lustig, weil unsere Stücke meistens nach existierenden Werken benannt sind. Und ich habe zunehmend immer mehr jüdisches Denken und jüdische Kultur in meine Arbeit einfließen lassen. Es fing also als Witz an aber wurde dann zu unserem 10-jährigen Jubiläum von Ariel Efraim Ashbel and friends konkreter. Da hatten wir die Möglichkeit, zwei Aspekte unserer Arbeit zu verbinden, die so vorher noch nicht zusammengefunden hatten: Einerseits Bühnenshows und Spektakel, die inhaltlich eher abstrakt waren, und andererseits Salons und Rituale, die sich mit dem jüdischen Kalender und jüdischen Traditionen befassen. Ein Musical gibt uns die Gelegenheit, beides unter einem Dach zu vereinen.

Wie sieht euer Arbeitsprozess aus, nachdem ihr euch für einen Titel entschieden habt?

In diesem Fall habe ich mit Ethan Braun (der Komponist und musikalische Leiter der Show) als erstes den Film Anatevka (Der Fiedler auf dem Dach) (1971) studiert und abstrahiert. Wir haben die dramaturgische Struktur, auf der die Geschichte basiert, auseinandergenommen und konzentriert. Dieses Gerüst war dann der Ausgangspunkt für unser eigenes Material: eine Mischung aus Improvisation und Referenzen der verschiedenen Performance-Praktiken der jüdischen Diaspora, von Russland über Deutschland und Zentraleuropa bis in die Vereinigten Staaten. Vor den Proben hatten wir ein Seminar mit allen Teilnehmenden, in dem wir die wichtigsten Referenzen vorgestellt, zentrale Fragen erarbeitet und die jeweiligen Assoziationen aller Beteiligten erforscht haben.

Du betrachtest das Musical sowohl als experimentelle Tradition, als auch als jüdische Tradition. Wie siehst du das Musical im Verhältnis sowohl zum experimentellen Theater, als auch zur diasporischen jüdischen Erfahrung?

Es ist tatsächlich der perfekte Schnittpunkt dieser beiden Strömungen. Jüdinnen_Juden wurden traditionell aus dem Mainstream-Kulturbetrieb ausgeschlossen. Osteuropäische Jüdinnen_Juden wurden, als sie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in Berlin ankamen, in den großen Theatern verpönt, sogar von bereits hier lebenden Jüdinnen_Juden. Ohne Zugang zu Institutionen ermöglichte das Musical als Hybridform unkonventionelle Mischungen. Mischungen die etwas chaotischer, improvisierter waren und das war zu diesem Zeitpunkt sehr jüdisch. Kulturell marginalisierte Shtetl- und Jiddisch sprechende Jüdinnen_Juden mussten experimentieren und unterschiedliche performative Formen erfinden. So wurden Vaudeville, Stand-Up-Comedy und Nonsense – diese neuen, anderen und merkwürdigen Formate – geboren und in die jüdische Kultur integriert. Das Musical legt einen starken Schwerpunkt auf Unterhaltung und die unmittelbare Reaktion des Publikums. Es möchte die Menschen fühlen und lachen lassen. Es gibt einen Drang nach Unmittelbarkeit, der die Fassade der Hochkunst durchstößt. Und das ist der Punkt, an dem sich jüdische und experimentelle Strömungen treffen.

Musik, sowohl experimentell als auch populär, spielt in deiner Arbeit eine große Rolle. Wie ähnelt und wie unterscheidet sich “Fiddler” von vergangenen Shows?

Ich denke, es ähnelt sich in dem Sinne, dass es verschiedene Referenzen vereint. Das ist ein roter Faden, der sich durch alle Shows zieht. Was anders ist, ist, dass wir das gesamte Konzept auf dem Grundstein der Musik aufgebaut haben; aus dramaturgischer Sicht ist sie das Fundament. Ethan hat Stücke komponiert, ich habe daraufhin Ideen mitgebracht, auf die er wiederum reagiert hat. Und auf diesen Prozess haben die Darsteller*innen und das kreative Team aufgebaut. Ethan hat einen musikalischen Wegweiser basierend auf der “Fiddler on the Roof”-Partitur entstehen lassen.
Ein weiteres Herzstück dieser Show ist auch das große Orchester des Solistenensemble Kaleidoskop, damit steht die Musik buchstäblich im Mittelpunkt der Show.

Wie haben die Ereignisse in Israel und Gaza den Arbeitsprozess beeinflusst?

Der Krieg begann mitten in der Probenzeit, und das hat natürlich alles verändert. Wir alle spürten, dass die Frage “Was machen wir jetzt?”, an erste Stelle gerückt ist. Sollen wir weitermachen oder absagen oder verschieben? Und wenn wir weitermachen, was brauchen wir? Und was können wir dem Publikum bieten? Alles wurde umgeworfen, als ob uns der Boden unter den Füßen weggezogen wurde.

Innerhalb dieses Prozesses des Infragestellens wurde dann das Studio zu dem Ort, an dem wir in Gemeinschaft sein und uns gegenseitig stützen konnten.

Wir haben dann die Entscheidung getroffen, in dieser Phase nicht zu viel über die Show an sich nachzudenken und die Antworten auf all diese neuen Fragen erst einmal hinten anzustellen. Wir waren emotional am Boden, und das Studio wurde ein Zufluchtsort für gegenseitigen Halt, Tränen, Lachen und Umarmungen. Nach und nach begann sich dann auch der Inhalt der Show zu ändern. In früheren Momenten meiner Karriere hätte es mich vielleicht gereizt, sehr intensive Bilder zu finden oder mit den Grenzen von Akzeptanz und Anstößigkeit zu spielen. Aber ich habe erkannt, dass ich das jetzt nicht tun kann, nicht wegen einer intellektuellen oder politischen Haltung, sondern wegen meines eigenen emotionalen Bedürfnisses. Ich brauchte es förmlich, dass sich Menschen umarmen, freundlich zueinander sind und sich auf verschiedene Weisen halten. Sobald wir wussten, dass wir mit der Show weitermachen wollen, haben wir angefangen zu überlegen wie sie ein Raum für unsere Trauer werden könnte und wie wir dem Publikum ermöglichen können, daran Teil zu haben. Abseits von reiner Unterhaltung ist mein Wunsch, und ich weiß, das klingt sehr pathetisch, eine Art Heilungsritual entstehen zu lassen.