Eine noch nie dagewesene Form des Zusammenseins

Sophie Lewis im Gespräch mit Eleonora Roldán Mendívil und Eva von Redecker

Am 4. Februar 2024 fand im HAU1 die Diskursveranstaltung “Beyond Equality #2: On Abolishing the Family – and Finding Alternatives” statt. Mit “Abolish the Family” (“Die Familie abschaffen: Wie wir Care-Arbeit und Verwandtschaft neu erfinden”, S. Fischer) hat die Autorin Sophie Lewis die Geschichte feministischer Kritik an der Kleinfamilie rekapituliert. Ihre Vision zur feministischen Organisierung des Alltags wird gerade breit diskutiert: Sie kritisiert das idealisierte Konzept von Familie und propagiert stattdessen kollektive Care-Arbeit. Nur wenn wir beginnen, über die Familie hinauszudenken, können wir uns ausmalen, was danach kommen könnte. Nach einem Vortrag von Sophie Lewis fand ein Gespräch zwischen Sophie Lewis, der Politologin Eleonora Roldán Mendívil und der Philosophin Eva von Redecker statt. Dies ist eine gekürzte Fassung der Diskussion.
 

Eva von Redecker
Wie würdest du Klasse definieren, Sophie?

Sophie Lewis
In meinen Augen ist die brisante Erkenntnis der autonomen italienischen Feminist*innen in der Linken weiterhin nur halb verdaut. In “Lohn gegen Hausarbeit” von Silvia Federici sehen wir eine Neuinterpretation der klassischen Geschichte, in der Marx uns auffordert, ihm in die Fabrik zu folgen, wo er uns mit der grausamen Realität konfrontiert, was passiert, wenn Kapital auf Arbeit trifft. Er zeigt uns: Es handelt sich nicht um einen freien Austausch und es ist nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen. Es ist die hässliche Realität. Meiner Ansicht nach haben sie uns in den 1970er-Jahren gezeigt, dass es noch eine weitere Ebene gibt, dass hinter der Fabrik noch ein weiterer Vorhang existiert, hinter dem eine unbezahlte Hausfrau steht und Suppe kocht. Und das ist bis heute wirklich schwer zu begreifen. Es ist eine äußerst beunruhigende, schwindelerregende Erkenntnis. Denn unsere geistige Gesundheit hängt von der Hoffnung ab, dass unsere Suppe nicht von einem Kreislauf der Kapitalakkumulation durchzogen ist. Ich schweife ab, tut mir leid, aber das ist eine ziemlich schwierige Frage, Eva! Eine Definition von Klasse! Ich versuche natürlich aufzuzeigen, inwiefern unbezahlte Reproduktionsarbeit in der Definition des Proletariats verortet werden kann. Aber es ist eine schwere Frage. Ich habe mein Bestes gegeben, um eine Definition der Familie zu finden. Dafür habe ich schon sehr lange gebraucht.

Eva von Redecker 
Ich glaube, du hast die Antwort eigentlich schon gegeben. Ich bin darauf gestoßen, als ich deinen großartigen Artikel über Abtreibung gelesen habe. Gleich am Anfang sprichst du vom 1. Mai als dem Tag, an dem die Menschenmacher*innen, die Schöpfer*innen der Menschheit, des Lebens oder ... Wie war das? Wie hast du es formuliert?

Sophie Lewis
Ich glaube, ich habe geschrieben, dass wir uns am 1. Mai als “Menschenmacher*innen, als Schöpfer*innen der Welt und unserer selbst” feiern. Anthrogenese, die Produktion von Menschen.

Eva von Redecker
Ja, die Menschenmacher*innen feiern den Akt des Menschenmachens. Die Rede ist von den Arbeiter*innen, richtig? Wie Marx sagen würde: “das Tier, das sich selbst produziert”. Diese Formulierung hat mir sehr gefallen, weil sie das Reproduktive, das Menschen-Machen in den Mittelpunkt stellt und daraus Klassenpolitik macht. Möchtest du dem noch etwas hinzufügen, Eleonora, oder würdest du dich so einem erweiterten marxistisch-feministischen Klassenbegriff anschließen?

Eleonora Roldán Mendívil
Mir gefällt Lise Vogels Definition von Arbeiter*innen. In “Marxismus und Frauenunterdrückung” sagt sie an einer Stelle sehr schön, die Arbeiterklasse oder die Arbeiter*innen seien all jene, die in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft Teil dieser Lohnarbeit, aber auch der allgemeinen Arbeitsstruktur waren, sind oder sein werden.
Sie schließt also auch Rentner*innen mit ein und Menschen, die gerade keiner Arbeit – Lohnarbeit – nachgehen. Sie schließt auch Kinder mit ein, deren Eltern einer Lohnarbeit nachgehen müssen, um ihr Überleben zu sichern.
Die Tatsache, dass die Arbeiterin noch weiterarbeitet, wenn sie nach Hause kommt, ist ein Aspekt, den feministische Fragestellungen in die Sphäre des Sozialismus und Marxismus mit eingebracht haben. Ich denke, das ist sehr wichtig.
Es gibt einen Unterschied zwischen Lohnarbeit und unbezahlter Arbeit und einen Unterschied hinsichtlich der Taktik oder Strategie, je nachdem, wen wir wann organisieren. Ich erinnere mich noch, dass es in Deutschland vor etwa zehn Jahren einige Streiks von Pflegefachkräften gab und alle sagten: “Sie sind das neue revolutionäre Subjekt!” Und alle Feminist*innen meinten: “Das ist die ökonomische Frage!” Und: “Jetzt werden wir gewinnen!” Aber ich dachte: Okay, wartet mal. Es ist schon ein bisschen komplizierter, denn wenn sich dieses Krankenhauspersonal nicht mit dem gesamten deutschen Transport-,  Logistik- und Automobilsektor verbündet, können wir nicht von einer tatsächlichen Macht der Arbeiter*innen sprechen. Wir sprechen nur von einem Zweig, den wir in seinem Kampf unterstützen sollten. Ich hatte das Gefühl, manche Leute dachten, in zwei Wochen hätten wir hier den Sozialismus. Ich war nicht dieser Meinung.
Es gibt diese Glorifizierung eines jeden Streiks, was eine sehr sozialdemokratische Form von Politik ist. Was natürlich nicht bedeutet, und da stimme ich zu, dass wir den Kampf unserer Arbeiter*innen für jede noch so geringfügige, kleine Reform nicht unterstützen sollten. 
Rosa Luxemburg hat uns gelehrt, dass Reform und Revolution Hand in Hand gehen. Für mich umfasst die Arbeiter*innenklasse natürlich viel mehr als nur die Lohnempfänger*innen, nämlich alle, die direkt oder indirekt von einem Lohn abhängig sind.

Eva von Redecker
Es ist bemerkenswert, Sophie, dass dein Buch “Die Familie abschaffen” heißt. Es heißt nicht “die Familie ersetzen”, wie man es von einer dialektischen Denkerin erwarten würde. Du hast dich für eine abolitionistische Position entschieden. Du sagst sehr schön, dass das zunächst etwas Skandalöses hat, weil eine Familie natürlich kein Gefängnis ist. Polizei und Gefängnisse sind ja viel schlimmer. Und doch haben Feminist*innen diese Analogie hergestellt. Das hat mich an einen meiner Lieblingssätze aus einem Roman von Mary Wollstonecraft erinnert, in dem die Hauptfigur sagt: “Marriage has bastilled me for life,” also “Die Ehe hat mich lebenslang eingesperrt.” Hier wird die Familie mit der Bastille gleichgesetzt, vielleicht ist sie also doch ein Gefängnis. Und vielleicht ist es aus dieser Perspektive auch verständlicher, warum die Frage nach der Alternative so lästig ist. Denn wir würden ja auch nicht fragen, was die Alternative zur Polizei wäre. 
Das wäre eine Welt, in der wir keine Polizei brauchen. Vielleicht könnte man die Frage auch so stellen: Welche anderen Strukturen brauchen wir, damit wir die Familie nicht mehr brauchen? Was müssen wir stattdessen hervorbringen? Findest du diese Frage etwas sinnvoller?

Sophie Lewis
Ja, das ist die Frage. Nur eine kurze Bemerkung dazu, was “Abschaffung” in diesem Zusammenhang bedeutet. Du hast recht. Auch wenn der Titel nicht “Die Familie ersetzen” lautet, erkläre ich den Begriff “Abschaffung” später im Buch genau mit diesen Worten. Ich glaube, das ist auch ein komplizierteres terminologisches Problem.
In den USA sprechen Philosoph*innen wie Ruth Wilson Gilmore von Abschaffung als einer Vergegenwärtigung von allem, was den Gegenstand, auf den man abzielt, nahezu zum Verschwinden bringt. Man schafft Gefängnisse also nicht ab, indem man sie einfach alle niederbrennt. Das könnte natürlich passieren. Aber die schlechte Nachricht ist, dass das nicht zur Abschaffung von Gefängnissen führt. Abschaffung bedeutet, Strukturen zu schaffen, die dafür sorgen, wofür Gefängnisse angeblich sorgen sollen – für Gerechtigkeit.
Abolitionismus beschreibt den Prozess, eine Infrastruktur zu schaffen, die wirklich die Bedürfnisse erfüllt, die die fragliche Sache nur zu erfüllen vorgibt.
In den 1980er-Jahren haben die marxistischen Feministinnen Michèle Barrett und Mary McIntosh, die im finstersten Thatcherismus eine kleine Flamme für die Abschaffung der Familie hochhielten, in ihrem sehr eleganten Buch “The Anti-social Family” geschrieben, die Aufgabe der Abschaffung bestehe darin, Dinge aufzubauen, die die Familie entlasten. Man muss Infrastrukturen schaffen, die den Menschen eine echte Wahl lassen, mit wem und wie sie leben wollen. Und das führt zur Abschaffung der Familie als Logik der privatisierten Care-Arbeit. Unterkünfte und kostenloses Essen sind ein Teil davon. Für viele fängt die Organisation auf der Straße an, indem man die Menschen in irgendeiner Form mit Lebensmitteln versorgt.
Meine Freundin und Genossin M. E. O'Brien, die bei Pluto Press ein viel längeres Buch über die Abschaffung der Familie herausgebracht hat, nennt als konkretes Beispiel dafür die Kommune von Oaxaca. Dort sind die Menschen über einen beträchtlichen Zeitraum auf die Barrikaden gegangen und haben so viel Druck auf die bestehende Teilung zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit in ihrer Gesellschaft ausgeübt, bis es anfing, wirklich ernst zu werden! Sie haben rudimentäre Formen von entkommodifizierter und zum Teil gemeinschaftlicher gegenseitiger Fürsorge entwickelt. Während eines militanten Kampfes zum Beispiel oder einer Besetzung des Stadtplatzes, der über mehrere Monate oder Jahre andauert – wenn man zu begreifen beginnt, wie die Bedürfnisse der Menschen abseits der privaten Kanäle der Nahrungsversorgung und zwischenmenschlichen Fürsorge gestillt werden können, da entwickelt man diese Fähigkeiten. Das ist komischerweise auch ziemlich provokativ oder vielleicht enttäuschend, weil ich sage: In all euren linken Kampagnen und Kämpfen geht es doch schon um die Abschaffung der Familie.

Eva von Redecker
Mir gefällt diese Idee, dass man anfangen muss zu kochen und ein paar Grundbedürfnisse zu stillen, damit die Menschen die privatisierte Bedürfnisbefriedigung aufgeben, die ohnehin oft eine organisierte Vernachlässigung ist. Aber natürlich stellt sich die Frage: In welcher Struktur oder auf welcher Ebene sollte so etwas idealerweise organisiert werden? Denn für Alexandra Kollontai (eine sowjetische Revolutionärin und Autorin, Anm. d. Red.) war klar, dass der Staat die Kantinen, die Kinderbetreuung usw. organisiert. Mir fällt es sehr schwer, mir ein Konstrukt vorzustellen, dem ich es zutrauen würde, ein ausreichendes Maß an Fürsorge zu schaffen.

Sophie Lewis
Ja, mir auch. Aber der Versuch lohnt sich. Wir müssen es versuchen, oder? Denn wir müssen von der eher unangenehmen Wahrheit ausgehen, dass es unwahrscheinlich ist, dass wir die Dinge schlimmer machen, als sie schon sind. Der Status Quo ist wirklich katastrophal. Es ist erstaunlich, was wir unter der Ägide der Familie normalisieren und akzeptieren. Gleichwohl gibt es gewisse Dinge, die für “die Familie” als Vorlage für die Organisation von Fürsorge sprechen, nämlich, dass sie eine Antwort auf die Frage hat: “Was machen wir mit deinem widerlichen Onkel Stanley?” Die Antwort hier ist: “Er gehört zur Familie, also muss er zu Weihnachten eingeladen werden!” Das ist auf jeden Fall eine Antwort, stimmt's? Was ich sagen will, ist: Was auch immer wir uns einfallen lassen, muss auch eine Antwort auf die Frage haben, wie wir mit Arschlöchern umgehen. Mit denen, die außen vor bleiben, wenn wir unsere Familien selbst wählen. Deshalb greift die Logik der “Wahlfamilie” zu kurz. Wir müssen uns überlegen, wie wir auch für diejenigen sorgen, die nicht auserwählt wurden.

Eva von Redecker
Ich glaube, der Begriff “Wahlfamilie” oder das deutsche “Wahlverwandtschaft” ist auch deshalb keine gute Lösung, weil er sich auf einen Bereich bezieht, in dem wir keine Wahl haben. Du sagst, dass es nicht darum geht, Abhängigkeiten abzuschaffen, sondern darum, Abhängigkeiten einvernehmlich zu machen. Aber auch da gibt es Grenzen. Bei manchen Formen der Abhängigkeit – in einem Zustand der Dissoziation, im Koma oder als Baby – ist man gar nicht in der Lage, seine Zustimmung zu geben. Der Begriff der Wahl trifft es hier also nicht so richtig, wie du eben gesagt hast. Ein Wort, das ich im Deutschen schön finde, ist “Findling”. Man findet einfach jemanden. Man hat die Person nicht ausgewählt, muss sich aber mit ihr auseinandersetzen. Wie du sagst, man muss auch mit denjenigen umgehen, die niemand gewählt hat und mit denen niemand freiwillig eine Familie gründen will.
In Troy Vetteses und Drew Pendergrass’ Utopie “Half-Earth Socialism” gibt es so eine duale Struktur. Zum einen gibt es Schlafsäle und Kantinen, die umsonst und für alle offen zugänglich sind. Zum anderen gibt es noch kleinere Zentren, in denen Menschen in selbstgewählten Gruppen leben und in die sie sich zurückziehen können. Natürlich muss ständig darum gekämpft werden, dass diejenigen, die sich aus der kollektiven Struktur zurückziehen, nicht zu viel Besitz anhäufen. Dass sie etwas zurückgeben. Ansonsten wäre das eine sehr ableistische Versuchung. Ich finde es sehr überzeugend und auch intellektuell mutig, dass du sagst: “Nein, es geht nicht nur um die schlechte Familie, sondern um alle Familien. Die Familie als Privatisierung der Fürsorge muss abgeschafft werden.”
Und dennoch denke ich, dass durch die Privatisierung eine gewisse Intimität gewährleistet wird, die wir vielleicht aufrechterhalten sollten. Offensichtlich sind real existierende Familien sehr schlecht darin, diese Intimität sicherzustellen, denn, noch mal, man kann sich seine Familie nicht aussuchen, und Familien sind oft gewalttätig. Dennoch gibt es vielleicht bestimmte Bedürfnisse, die man lieber in einer intimeren Beziehung befriedigt oder mit jemandem, den man schon länger kennt oder dessen Geschlecht man sich aussuchen kann. Manch eine*r isst gerne mit 20 Leuten und andere lieber nur zu zweit. Es gibt einen Bedarf an solchen Rückzugsmöglichkeiten, für den wir auch in der Care-Kommune Möglichkeiten finden sollten. Oder glaubst du, wenn alle fürsorglich genug wären, müssten wir uns gar nicht mehr zurückziehen?

Sophie Lewis
Wer weiß? Das könnte sich vielleicht durchaus verändern. Das entspricht sicherlich dem, was Schwulen- und Lesbenbewegungen wie der Front Homosexuel d'Action Révolutionnaire erwartet haben: dass unser Bedürfnis nach Privatsphäre abnehmen würde. In der Schwulen-, Lesben- und Frauenbewegung ging es ständig darum, was passieren würde, wenn wir das Konzept von Paarbeziehung und Familie überwunden hätten. Sie rechneten damit, dass sich das individuelle Wohfühllevel in Bezug auf die Gemeinschaft tiefgreifend verändern würde. 
Aber genau wie du glaube ich, dass es unglaublich wichtig ist, über diese dualen Strukturen nachzudenken. Ich stimme dem, was du angedeutet hast, sofort zu. In der Stadt Mattapoisett in Marge Piercys Buch “Die Frau am Abgrund der Zeit” gibt es, wenn ich mich recht erinnere, eine Art duale Struktur der Erziehungskompetenzen. Es gibt die sogenannten “Kid-Binders”, die sich mit Kinderbetreuung und Kindererziehung auskennen, aber jedes Kind hat auch drei Eltern. Und in Charles Fouriers Phalanstère, das auf den utopischen Realismus der 1810er- und 1820er-Jahre zurückgeht, gab es ebenfalls duale Strukturen. Dieser Typ hat das Wort Feminismus erfunden. Wenn man liberale Feminist*innen ärgern will, kann man also sagen, dass der Feminismus ursprünglich auch die Abschaffung der Familie bedeutete. Denn auch wenn Mary Wollstonecraft eine Feministin war, hat sie es nicht als “Feminismus” bezeichnet. Übrigens hat sie auch die Institution der patriarchalen Mutterschaft befürwortet, für andere, nur eben nicht für sich selbst. Für Charles Fourier war das Phalanstère jedenfalls etwas, das vor allem das Bedürfnis der Menschen nach Privatsphäre erfüllen sollte. Diese Kommunen waren seine Vorstellung von einem riesigen Lebensraum für etwa 1600 Menschen, wo sich das Leben auf eine derart wissenschaftlich auskalibrierte Weise abspielt, dass es auf die Vorlieben, Fähigkeiten und Bedürfnisse eines jeden Menschen zugeschnitten ist. Das war vollkommen verrückter, unglaublich detaillierter Plan für die Zukunft.
Aber ich glaube, es ist wichtig, das Streben nach Selbstbestimmung anzuerkennen, wenn es darum geht, wie wir unsere Beziehungen gestalten wollen, damit sie sich auch manchmal aus dem Sozialen zurückziehen können. Doch im Gegensatz zu Fourier müssen wir anerkennen, dass die Abschaffung der Familie wahrscheinlich nicht sehr geordnet, sondern durch Kampf erfolgen wird. Das betonen auch M. E. O'Brien und Eman Abdelhadi immer wieder in ihrem gemeinsamen Buch “Everything for Everyone”, in dem sie aufzeigen, wie die Abschaffung der Familie in New York City in naher Zukunft stattfinden wird. Man sollte es wirklich lesen, wenn man einen Eindruck davon bekommen will, wie diese aufkeimenden Alternativen in die Tat umgesetzt werden. 
Unterm Strich geht es dieser Politik weder darum, Leute zusammenzupferchen, noch darum, sie auseinanderzureißen, oder jemandem seine*ihre Großmutter wegzunehmen. Es geht darum, den Menschen eine noch nie da gewesene Form des Zusammenseins zu ermöglichen. Das ist der Traum der “roten Liebe”. Es ist die Hoffnung, dass wir uns unter Bedingungen des Überflusses auf gewaltlose, freie Art und Weise begegnen und an einander binden könnten.

Eva von Redecker
Eleonora, wenn du sagst, dass wir eine Arbeiter*innenbewegung brauchen, dann würde das bedeuten, dass wir schon allein dadurch den Überfluss produzieren könnten, den wir brauchen, um die Familie loszuwerden, richtig? 
Kollontai sagt, die Zeit sei reif für die Abschaffung der Familie. Jeder sei bereits ein Arbeiter oder eine Arbeiterin und wir könnten sie jetzt schon abschaffen. Denkst du, dass das heute noch der Fall ist, oder hat es einen Rückschritt gegeben? Denn es hört sich eigentlich eher so an, als wäre die Zeit noch nicht reif oder nur für die falschen Leute. Manche Leute können die Familie abschaffen. Das tut der Kapitalismus ja auch. Aber für andere ist die Zeit noch nicht gekommen. Oder würdest du dich dieser Vorstellung des Marxismus von einem progressiven Zeitplan gar nicht anschließen?

Eleonora Roldán Mendívil
Wir alle haben irgendeine Form von Zeitplan. Und natürlich sehen wir als Menschen, die den Anspruch erheben, dialektisch zu arbeiten, die ständigen Bewegungen in der Gesellschaft, die ständigen Fort- und Rückschritte. Und die sind nicht immer klein. Um auf die Frage zurückzukommen: Ich glaube nicht an einen developmentalistischen Humanismus, der uns immer mehr in eine freiere und bessere Gesellschaft führt. Das ist das Narrativ, aber in Gaza sehen wir jeden Tag auf unseren Bildschirmen, dass das nicht stimmt. All die Werte, die vermeintlichen “Familienwerte“, für die wir uns nach Ansicht der Konservativen und Liberalen aufopfern müssen, werden bei anderen unter Beschuss genommen, denn es zeigt sich gerade sehr eindrucksvoll, wer eine Familie haben darf und wer nicht.
Daher würde ich sagen, dass wir in anderen Zeiten leben als Kollontai, als es eine massive, selbstbewusste sozialistische Arbeiterbewegung gab. Es gibt eine Bewegung. Die Menschen bewegen sich. Den Menschen gefällt der Status quo nicht, sei es die ökologische Zerstörung, die patriarchale Gesellschaft oder das rassistische Grenzregime.
Wir haben all diese spezifischen Themen, für die die Menschen auf die Straße gehen. Es gab diese riesige Welle von “wir wollen den Status quo erhalten“ von Tausenden, vielleicht Millionen von Menschen in Deutschland, die sagten: “Wir wollen keine AfD-Politik, wir wollen unsere offene Gesellschaft so erhalten, wie sie ist.” Aber ich sage: Ich will diese Gesellschaft nicht, so wie sie ist. Denn diese Gesellschaft schiebt gerade ab. Diese Gesellschaft ist gerade zerstörerisch. Wir befinden uns gerade im Krieg.
Im Deutschen gibt es den schönen Begriff der “bürgerlichen Mitte“. Das Zentrum. Die vernünftigen Menschen, die Demokrat*innen, jede*r gegen die aktuellen Bedrohungen der Demokratie. Und ich frage mich: Welche Demokratie verteidigen wir hier eigentlich gerade? 
Für mich wäre die Zeit reif, wenn es ein Bewusstsein darüber gäbe, dass unsere Anführer*innen und alle demokratischen Parteien Teil des Problems sind. Wir sitzen gerade im Herzen des Imperiums. Aber irgendwie glauben wir, wir seien Teil der Lösung. Wer also ist dieses “wir“? Versammeln wir uns plötzlich alle hinter dieser deutschen Flagge und sagen: Die Deutschen werden die Welt retten? Ich glaube nicht. 
Welche anderen Subjektivitäten können wir uns also vorstellen? Was haben wir mit den Menschen gemeinsam, die in Gaza bombardiert werden? Was haben wir mit den Menschen gemeinsam, die in Darfur Hunger leiden? Worin besteht unsere gemeinsame Menschlichkeit und wie können wir für sie kämpfen? Das ist für mich die Frage.
Ich glaube nicht, dass die Zeit jetzt reif ist, um sagen zu können: Wir haben diese revolutionäre Bewegung bereits. Aber natürlich, und da stimme ich dir absolut zu, müssen wir diese Fragen stellen. Und offensichtlich sind wir im Moment nicht Teil einer revolutionären sozialistischen Organisation. Wir versuchen herauszufinden, was die nächsten Schritte sein könnten. Aber wir gehören zu den Privilegierten, die darüber nachdenken können. Die nicht jede Minute vom Tode bedroht sind. Die darüber nachdenken können, was für eine andere Gesellschaft wir wollen. Dafür brauchen wir eine Analyse, warum diese Gesellschaft, in der wir leben, so kaputt ist. Ich bin ein optimistischer Mensch. Ich glaube, diese Zeit wird kommen. Ich glaube, genau wie Kollontai, dass wir schon jetzt die Möglichkeiten haben, den Sozialismus und die Abschaffung der Familie umzusetzen. Ist die Zeit reif, um diesen Schalter tatsächlich umzulegen? Ich glaube nicht. Aber wir müssen uns alle in sämtlichen Lebensbereichen dafür einsetzen, dass die Zeit schneller reif wird.

Aus dem Englischen übersetzt von Christina Gauglitz.