“Ich will, dass die Zukunft eintritt.”

Revolution als Prozess – Ein Gespräch aus pARTisanka 35

Den belarusischen Ereignissen nach dem 9. August 2020 sind inzwischen viele Artikel belarusischer und internationaler Expert:innen gewidmet. Diese Texte beschäftigen sich vorwiegend mit dem Festhalten der Ereignisse und der Analyse des Charakters von Protesten, die so gut wie alle soziale Gruppen umfassen und unterschiedliche Formen einnehmen: Vom zivilen Ungehorsam und italienischen Streik über Nachbarschaftsfeste, individuelle und kollektive Solidaritätsbekundungen bis zu Stellungnahmen und Märschen. Auch wenn ein Diskussionsfeld inzwischen entstanden ist, mangelt es an Besprechungen von Zukunftsszenarien, was durch unterschiedliche Gründe erklärt werden kann, darunter auch durch die Sorge, den Protest zu demotivieren.

FELIX ACKERMANN: Ich befinde mich derzeit in Polen. Davor fuhr ich für eine Woche nach Berlin und kehrte in ein anderes Polen zurück – ein Land, in dem eine Protestwelle gegen das neue Abtreibungsgesetz aufkam, das jegliche Eingriffe aus medizinischen Gründen verbietet. Tausende von Frauen gingen auf die Straße, um gegen das Gesetz zu protestieren. Das heißt, was in Belarus geschieht – ich meine in erster Linie die Massenaufmärsche der Frauen – wird bereits exportiert. Dabei geht es nicht nur um Märsche als solche, sondern auch um die besondere Rolle der Frauen bei diesen Märschen und den Verzicht auf traditionelle Formen der politischen Parteienbildung mit sichtbaren patriarchalischen Anführern im Zentrum. In Polen wurde auch ein Koordinationsrat gebildet, zu dem Nichtpolitiker eingeladen sind. Das Wichtigste ist, dass es nicht nur um einen Kampf für Frauenrechte geht, sondern ganz grundsätzlich für politische Rechte sowie für eine andere Art der Gesellschaftsgestaltung. Der Bezug auf Belarus ist da ganz explizit.

ELENA GAPOVA: Die Ereignisse entwickeln sich rasch. Noch vor einem Monat hätte ich über anderes gesprochen und andere Optionen und Möglichkeiten für die Zukunft in Betracht gezogen. Damals schien die Möglichkeit vorhanden, über eine Neuorganisation des Staates und des öffentlichen Lebens nachzudenken. Im Augenblick können wir darüber kaum im realen “Modus” diskutieren, zumindest nicht für die nahe Zukunft. Vielleicht irgendwann später, vielleicht Jahre später, weil die Gesellschaft jetzt nicht genug Kraft besitzt, um diese Macht zu durchbrechen, der wir widerstehen. Niemand konnte sich vorstellen, dass es nicht nur zu einem Gesetzesbruch kommt, sondern zu dieser absoluten Gesetzlosigkeit, wenn man alles tun kann, wenn man töten und sagen kann “er ist hingefallen”. Niemand konnte sich vorstellen, dass dabei alle staatlichen Institute – Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht, Medienmaschine, Armee, Parlament, Bildungssystem, Sport und alles andere, was vom Staat kontrolliert wird – nicht nur nichts dagegen unternehmen werden und nichts ermitteln, sondern mit vollem Einsatz dafür “arbeiten” werden. Wer hätte gedacht, dass es möglich ist, nicht nur einen Politiker ins Gefängnis zu stecken, sondern auch seinen Anwalt und dann den Anwalt des Anwaltes.
Ich überlege mir auch, wer jetzt was “weiß”. Wir glauben, jeder sitzt im Internet und jeder weiß, was passiert, aber wir sind diejenigen, die im Internet sitzen. Und es gibt einen anderen Teil der Bevölkerung, der die Welt aus einem anderen Fenster betrachtet. Und das Bild, das die Macht in diesem Fenster erzeugt – es wird zur “Wahrheit”. Ich meine in diesem Fall Fakten, reale Ereignisse, nicht irgendwelche höheren Wahrheiten. Es scheint uns, dass dies und das passiert ist, und jeder weiß davon. Aber es stellt sich heraus, dass das, was in diesem Fenster gezeigt wird, zur “Wahrheit” wird. Was soll man in dieser Situation tun? Was kann dagegen unternommen werden?

“Mein Optimismus gründet sich auf der Tatsache, dass das System zu zerfallen beginnt.”

ALMIRA OUSMANOVA: Ich stimme zu, wir sind jetzt in einer Stimmung, die sich ständig ändert. Die Repressionen haben sich verschärft, und es mag den Anschein haben, dass der Grad der Proteste abnimmt und die Hoffnung auf einen schnellen Wandel schwächer wird. Aber ich versuche, den Optimismus nicht zu verlieren, denn die dreimonatigen Proteste haben unumkehrbare Prozesse in Gang gesetzt. Das autoritäre Regime, das noch Anfang August ein Monolith zu sein schien, verwandelt sich zunehmend in einen Koloss auf tönernen Beinen. Ja, unbewaffnete Menschen, die Zivilgesellschaft als Ganzes, sind gegenüber dem repressiven Staatsapparat machtlos, aber es kann zu einer schnellen Auflösung kommen, weil die wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen und sozialen Grundlagen dieses Regimes durch verschiedene Formen des Protests erschüttert werden. So wird das Fundament untergraben, es gibt immer weniger funktionsfähige Menschen im Machtsystem, die internationale Isolation des Regimes wird verstärkt. Mit anderen Worten, mein Optimismus gründet sich auf der Tatsache, dass das System zu zerfallen beginnt.
Jetzt wird unsere Zukunft gewissermaßen auf unbestimmte Zeit verschoben, aber ich glaube, sie kann viel früher eintreten, als wir heute glauben. Etwa so, wie das Ende der Sowjetunion plötzlich “passierte”: Es schien, dass “es für immer war, bis es vorbei war” wenn man sich an den Titel des Buches von Alexej Yurchak erinnert. Wir müssen uns also auf die neue Zukunft vorbereiten, indem wir die Szenarien diskutieren und darüber sprechen, was nach dem Ende dieses Regimes getan werden soll und muss.

VALERIA KORABLYOVA: In diesem Gespräch habe ich die Position einer externen Beobachterin mit ähnlichen Erfahrungen der Bürgerbeteiligung und deren theoretischer Reflexion. Ich beziehe mich nicht nur auf den ukrainischen Kontext. Nach dem Maidan begann ich, Protestbewegungen im postsowjetischen Raum zu untersuchen und zu vergleichen – ich veranstaltete eine Reihe von Rundtischgesprächen, bei denen Vertreter verschiedener Länder ihre Erfahrungen der inklusiven Beobachtung sowie ihre Versuche der Strukturanalyse in einem breiteren Kontext austauschten. Eine der wichtigsten Erkenntnisse ist vielleicht, dass sowohl der “Sieg” der Proteste als auch ihre “Niederlage” in der Tat recht relativ sind. Einerseits hat jeder erfolgreiche Protest, unter einem erfolgreichen Protest verstehe ich einen, der zur Amtsenthebung amtierender Präsidenten führte, die ihre Legitimität verloren hatten, Erfahrungen mit Niederlagen in der Vorgeschichte. Das heißt, es handelt sich um eine Art kumulative Erfahrung, manchmal mit einem verzögerten sichtbaren Ergebnis. Deshalb darf eine Niederlage nicht als völlige Diskreditierung der Protestbewegung gesehen werden (im weiteren Sinne als Scheitern der Forderungen nach einer Neugründung der politischen Sphäre und einer Neugestaltung der Beziehungen zwischen Macht und Gesellschaft). Vielleicht ist die Gesellschaft, wie Elena sagte, im Moment noch nicht bereit, aber sie bewegt sich in diese Richtung. Hier ist auf gestiegene Zahl der Protestierenden und den Zuwachs der sozialen Basis der Proteste zu achten.
Die andere Seite der Medaille ist ein relativer Sieg. Wir hatten mehrere Maidans in der Ukraine. Das waren erfolgreiche Proteste in dem Sinne, dass sie zu einem (partiellen) Wechsel der herrschenden Eliten führten. Es stellte sich jedoch heraus, dass der Wechsel der Machthaber nicht zu Veränderungen im Machtsystem führte. An die Stelle des Erfolgsrausches treten Frustration und enttäuschte Erwartungen, wenn die Protestanführer nicht in der Lage sind, ihre Agenda zu erfüllen und die erwarteten Ergebnisse zu erbringen. Dies ist nicht nur auf die Qualitäten der Führer selbst zurückzuführen, sondern auch auf den Widerstand eines neopatrimonialen Systems und den Unwillen der Bürger, sich selbst und ihre tägliche Praxis zu ändern. Aber das ist ein Gespräch für die Zukunft.
Ich stimme Almira zu. Ich glaube auch, dass Lukaschenkos Regime dem Untergang geweiht ist. Dabei berufe ich mich sowohl auf die politische Theorie als auch auf die Erfahrungen anderer Länder. Nach Hannah Arendt sind Macht und Gewalt einander entgegengesetzt, wenn das eine endet, beginnt das andere: Sobald die Behörden zur Massengewalt greifen, verlieren sie ihre Hegemonie, ihre Legitimität. So kommentierte sie die Ereignisse 1968: Sowjetische Panzer auf den Straßen von Prag markierten das Ende des sowjetischen Regimes – einen symbolischen Bankrott der Sowjetmacht. Aber es dauerte weitere 20 Jahre, bis das Sowjetregime zusammenbrach. Ein weiteres Beispiel wäre die Solidarność- Bewegung in Polen. 1981, als die Führer der Bewegung inhaftiert wurden und der Kriegszustand ausgerufen wurde, sah das wie eine Niederlage aus. Aber acht Jahre später kam es zu dem Rundtischgespräch und zum Sturz des Sowjetregimes. Nach meinen Beobachtungen beschleunigt sich die Zeit: In Belarus wird es schneller gehen. Was wir in Belarus beobachtet haben und weiterhin beobachten, zeugt aus meiner Sicht von dem Bankrott des gegenwärtigen Regimes und bestätigt, dass es dem Untergang geweiht ist. Ich hoffe, dass der Preis des Sieges nicht zu hoch sein wird.

“Diese Revolution ist eine bürgerliche Revolution – sie setzt sich ein für die neuen Beziehungen zwischen den Bürgern und dem Staat.”

ELENA GAPOVA: Ich erinnere mich noch an den 16. August, als riesige Demonstrationen von den Fabriken mit den Bannern marschierten, auf denen “Wir sind kein Pöbel” und “Wir sind nicht 20 Leute, sondern 16.000” stand. Da war die ganze Stadt auf den Straßen und es schien, wir hätten bereits gesiegt. Ich erinnere mich an dieses Gefühl: Es ist so weit, es ist schon passiert. Weiter stellte es sich aber heraus, dass es nicht so weit war, denn wir haben keine Mechanismen für den Machtsturz, keine Institutionen, mit deren Hilfe die Macht dekonstruiert werden könnte. Nichts von dem gibt es. Weder eine Oppositionspartei noch sonst irgendwelche Institutionen, nicht einmal ein Protokoll der Machtübergabe. Wir sollten uns überlegen, was in der jetzigen Situation getan werden kann.
Aber wenn ich doch über die Zukunft nachdenke – was als Nächstes passiert und wie das ganze System wiederaufgebaut werden kann, beschäftigt mich Folgendes. Zu den Protestierenden gehören jetzt auch Menschen, die seit Langem gegen das Regime sind, viele sind betroffen, viele waren oder bleiben immer noch im Gefängnis. Sie gehören der “alten Opposition” an. Einerseits haben sie all die Jahre sich darum gekümmert, dass das Feuer des Protests nicht erlischt. Andererseits hat sich das Volk jetzt nicht wirklich für sie eingesetzt. Man setzte sich für völlig neue Namen ein, für neue Menschen, die andere Gesellschaftsschichten und somit andere Ideale verkörpern. Jetzt sind wir natürlich alle zusammen und solidarisch, diese Unterschiede scheinen irrelevant zu sein. Aber irgendwann wird es an der Zeit sein, die Agenda für die neue Gesellschaft zu erarbeiten. Und dann wird sich die Frage stellen: Wofür haben wir gekämpft? Und es besteht die Gefahr, dass die “alten Ideen” die neuen absorbieren, weil sie bereits ausformuliert und “gebrauchsbereit” sind, wobei die neuen erst herausgearbeitet werden müssen.
So wurde zum Beispiel im August eine Solidaritätskette veranstaltet, die von Kurapaty bis in die Stadt reichte und somit eine Parallele zwischen den stalinistischen Repressionen und der Gegenwart zog. Ende Oktober fand in Kurapaty die “Nacht der erschossenen Dichter” mit der gleichen Botschaft statt. In den letzten Szenen des Theaterstücks “Die Hiesigen” der Theatergruppe Kupalaucy werden Erschießungen unter der rot-grünen Fahne gezeigt. Das sind ganz bequeme Metaphern, obwohl seit dem Sozialismus dreißig Jahre vergangen sind, und wir ihn nicht nur dafür lieben. Außerdem sehen sich viele Protestierende heute als Nachkommen sowjetischer Partisanen und Soldaten, die gegen den Faschismus kämpften. Die gegenwärtige demokratische Revolution, bei der es um neue Beziehungen zwischen dem Bürger und dem Staat geht, in eine nationalistische oder antikommunistische umzuwandeln, ist aus meiner Sicht gefährlich und kann zu bitteren Enttäuschungen führen.
Ich thematisierte das mit einigen “Linken” aus Belarus und der Ukraine. Auch wenn nicht alle, doch viele von ihnen sehen die aktuellen Ereignisse als eine bürgerlich-liberale Revolution, die den Arbeitern nichts Gutes bringen wird. Das heißt, beide Seiten sind “schlechter”, weil die Arbeiter sowieso nichts davon haben werden. In der Tat ist diese Revolution ja nicht sozialistisch. Als Sozialwissenschaftlerin verstehe ich allerdings nicht, wie eine sozialistische Revolution grundsätzlich möglich ist, aber das ist eine andere Frage. Diese Revolution ist eine bürgerliche Revolution – sie setzt sich ein für die neuen Beziehungen zwischen den Bürgern und dem Staat. Wir müssen als autonome unabhängige Akteure mit Rechten und Stimmen anerkannt werden, damit wir anerkannt werden und den Staat zur Rechenschaft ziehen können. Absolut liberale Ziele, natürlich. Es wäre schön, wenn diese liberalen Ideale nicht mit Antikommunismus, sondern mit irgendeinem “linken” Projekt vereinbar wären. Es gibt doch die sozialdemokratischen Erfahrungen in Europa, wo sowohl der Sozialstaat als auch die Bürgerrechte unter einen Hut gebracht werden konnten.

“Unsere Haltung gegenüber der Zukunft ist nicht linear, gerade weil wir diese Zukunft in unsere Entscheidungsfindung einbeziehen müssen.”

FA: Als ich im August für deutsche Zeitungen über die Situation in Belarus schrieb, habe ich den Vergleich mit der DDR benutzt. Im Frühjahr 1989 fanden dort gefälschte Kommunalwahlen statt, und es kam zu Empörung, die zu Straßenprotesten führte. Ich fand diesen Vergleich nicht deshalb gut, weil der suggeriert, Belarus sei genau wie die späte DDR, wo gerade eine solche Diktatur herrscht. Die Gemeinsamkeit liegt darin, dass die Menschen sich mit den wichtigen Fragen beschäftigen müssen: ob sie zum Marsch gehen und den Streik unterstützen, ob sie abends “spazieren gehen”, ob sie Kinder mit zu den Protesten nehmen. Das sind alles existenzielle Entscheidungen, denn es geht um die Teilhabe am öffentlichen Leben des jeweiligen Landes. Und sie sind gerade deswegen kompliziert, weil niemand weiß, ob es zu Veränderungen kommt und wann sie eintreten. Niemand konnte sich in der DDR auch nur vorstellen, dass es den Staat in zwei Monaten nicht mehr geben wird. In dieser Hinsicht sind die beiden Situationen vergleichbar. Unsere Haltung gegenüber der Zukunft ist nicht linear, gerade weil wir diese Zukunft in unsere Entscheidungsfindung einbeziehen müssen.
Ich beschäftige mich gerade als Historiker mit Gefängnissen, darunter auch mit belarusischen. Irgendwann kommt ein entscheidender Moment für die Wachleute. Die Staatsmacht geht unter, wenn die Wachleute erkennen, dass sie die Gefangenen gehen lassen sollten, um das eigene Leben zu retten. Die existenziellen Fragen betreffen nicht nur die auf der Seite des Protests, sondern auch die auf der Seite des Staatsapparates: Sie müssen den richtigen Moment abpassen, der ein Weiterleben für sie ermöglicht.
Ich möchte auf das zurückkommen, was Elena über die Linke gesagt hat. Diese Reaktion gibt es auch in Deutschland. Ich glaube, es hat damit zu tun, dass nach dem Maidan die russische Propaganda in Deutschland, vor allem in Ostdeutschland, in linken Kreisen recht erfolgreich war. Kommt es zu einer Manifestation des Volkswillens, gibt es umgehend Assoziationen mit Nationalismus als etwas Schlechtem. Das Bewusstsein, dass mit Souveränität wortwörtlich Wille des Volkes bedeutet, dass es eine bürgerschaftliche Interpretation der Nation gibt, ist in Deutschland merkwürdigerweise nicht vorhanden. Was den Vergleich mit Polen betrifft: Ja, fast zehn Jahre vergingen zwischen dem Beginn der Solidarność-Bewegung und dem Runden Tisch, es gab lange Phasen, in denen nur wenige Menschen den Protest aktiv unterstützten. Viele kehrten in ihren Alltag zurück, viele Kompromisse wurden eingegangen. Aber gerade in diesem ziemlich langen Zeitraum konnten in Polen einige Mechanismen eingerichtet werden, die den Runden Tisch überhaupt erst ermöglicht haben. Denn alle Gespräche, die wir heute über die Zukunft führen, sind immer noch Gespräche innerhalb einer Seite des Konflikts. Die Machthaber haben in Belarus jede Legitimität verloren, aber dennoch stellt sich die Frage: Wie lässt sich ein Weg finden, sie in ein Gespräch einzubeziehen? Im Moment scheint das eine Utopie zu sein.

“Innerhalb von drei oder vier Monaten kam es zu einem ziemlich radikalen Neustart der Stimmungen in der Gesellschaft und der Vorstellungen über die Rolle der Frauen im politischen Leben des Landes.”

AO: Ich möchte auf das zurückkommen, worüber Valeria gesprochen hat – über die Positivität der negativen Erfahrung. Diese drei Monate des Widerstands gegen das System waren von einem kontinuierlichen Wachstum des politischen Bewusstseins und der kollektiven Intellektualität begleitet: Die Menschen beschäftigen sich mit den Fragen, wie der Staat organisiert ist, warum es wichtig ist, die verfassungsmäßigen Menschen- und Bürgerrechte und -freiheiten zu verteidigen. Vertreter verschiedener Berufsgruppen, die zuvor völlig unpolitisch gewesen waren, wurden sich ihrer politischen Interessen und Rechte bewusst. Dies ist eine unschätzbare Erfahrung, die für den Aufbau einer anderen Zukunft um gemeinsame Ziele herum wichtig ist.
Was die Dramatik der Niederlagen angeht, möchte ich auf Folgendes hinweisen: In der einen oder anderen Form gibt es die Proteste schon seit vielen Monaten, zumindest seit Juni. Die Erfahrungen des Widerstands machten “die tragenden Säulen” des autoritären Regimes sichtbar und erkennbar. Zehntausende von Menschen, die die Repressionsmaschinerie durchlaufen haben – Drohungen, wirtschaftlicher Druck, Inhaftierungen, Verhaftungen, Folter –, haben die Willkür der Justiz und die Unmenschlichkeit des bestehenden Strafvollzugssystems zu spüren bekommen. Dies lässt hoffen, dass die bevorstehende Reorganisation des gesamten Systems der Staatsverwaltung unter öffentlicher Kontrolle und mit aktiver Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern laufen wird.
Es ist viel über den einzigartigen Charakter der belarusischen Revolution gesagt und geschrieben worden. Ich möchte glauben, dass auch unsere Zukunft dank der eingeleiteten politischen Prozesse etwas Einzigartiges sein wird. Konnten wir denn beispielsweise erst vor einiger Zeit überhaupt davon träumen, dass in unserer postsowjetischen patriarchalischen Gesellschaft das Thema der Gerechtigkeit und die feministische Agenda dermaßen in den Vordergrund gerückt wird (sowohl im Inland als auch im internationalen Kontext)? Innerhalb von drei oder vier Monaten kam es aber doch zu einem ziemlich radikalen Neustart der Stimmungen in der Gesellschaft und der Vorstellungen über die Rolle der Frauen im politischen Leben des Landes. Im Kontext der aktuellen Ereignisse (unter Berücksichtigung des Ausmaßes und der Praktiken staatlicher Gewalt einerseits und des Potenzials der horizontalen Mobilisierung der Bürger andererseits) merken viele, dass der Staat in seiner früheren Form (mit den Apparaten unbegrenzter (sanktionierter) Gewalt und der erweiterten Bürokratie) nicht funktionsfähig ist.
Und noch ein Gedanke bezüglich Stärkung der Zivilgesellschaft. Der französische Theoretiker Jacques Rancière behauptete, Politik sei nur durch die “Teilnahme der Teilnahmslosen” möglich. Genau das beobachten wir jetzt in Belarus. All diejenigen, die früher im politischen Sinne teilnahmslos waren (und das sind Hunderttausende, wenn nicht Millionen von Menschen), sind plötzlich politisch engagiert, beteiligen sich am politischen Leben der Gesellschaft, was bis vor Kurzem unvorstellbar war.

“Auf Bildschirmen und in den Nachrichten sehen wir den aktiven Teil der Gesellschaft. Die schweigende Mehrheit bleibt im Schatten.”

VK: Es geht uns immer wieder darum, ob der belarusische Protest mit anderen Protesten verglichen werden kann oder einzigartig ist. Aus meiner Sicht schließt das eine das andere nicht aus. Ich finde auch, dass das ein Protest für eine offene Zukunft ist: Deshalb bleibt er auch weiterhin offen und wird keine der bestehenden Modelle nachahmen. Gleichzeitig ist es aber auch sinnvoll, sich mit diesen Modellen auseinanderzusetzen, um potenzielle Risiken und Fallstricke zu erkennen. Beispielsweise sehe ich hier eine Falle oder, wenn Sie so wollen, eine Illusion, dass sich alle Mitglieder der Gesellschaft nach direkter politischer Beteiligung, partizipativer Demokratie und so weiter sehnen.
Auf Bildschirmen und in den Nachrichten sehen wir den aktiven Teil der Gesellschaft, der recht zahlreich ist. Die schweigende Mehrheit bleibt im Schatten. Oder wenn nicht die Mehrheit, dann zumindest ein bedeutender Teil der Gesellschaft mit starken paternalistischen Instinkten. Bei allen Vorbehalten in Bezug auf die Repräsentativität soziologischer Forschungen im heutigen Belarus zeigen die Zahlen, die ich in den jüngsten Studien gefunden habe, dass die Sympathisanten des Protests, das heißt nicht nur diejenigen, die sich direkt an Protesten beteiligen, sondern alle, die sich in irgendwelcher Weise mit dieser Agenda assoziieren, etwas mehr als 40% ausmachen. Gleichzeitig gibt es um ein Vielfaches weniger überzeugte Anhänger von Lukaschenko – nach verschiedenen Schätzungen 10-12%, bis zu 15% höchstens. Etwa 40% bleiben in politischer Hinsicht nach wie vor apathisch. Diese Frage ist zum Stolperstein in der Ukraine geworden.
Dadurch wird der belarusische Fall aktuell und relevant für die Zukunft der Demokratie im Ganzen, denn wir lösen uns von der Vorstellung, dass wir uns dank der Möglichkeiten der modernen Medien in Richtung einer direkteren/ partizipatorischen Demokratie bewegen, und kommen zu der Einsicht, dass wir dadurch mit einer neuen Spaltung zu tun haben: Die Gesellschaft spaltet sich in einen politisch aktiven Teil und eine bewusst passive Mehrheit, die grundsätzlich keine aktive politische Beteiligung will. Jeffrey E. Green bezeichnet ihre Position als außerpolitisch (“extrapoliticism”). Sie wollen das Privileg behalten, auf politische Beteiligung zu verzichten, während sie ihre Interessen an diejenigen delegieren, die sie als ihre Vertreter betrachten. Häufig geht es dabei um sozial-wirtschaftliche Interessen. Wenn wir in diese Richtung über die gegenwärtige Situation nachdenken, wird deutlich, dass in der Zukunft der Kampf um diesen grundsätzlich außerpolitischen Teil der Gesellschaft geführt wird, der entscheidet, an wen er seine Stimme delegiert: an die gewählten Anführer, Politiker oder Bürgeraktivisten.
Es ist wichtig zu wissen, dass, wenn Sie siegen, die Zahl der aktiven Menschen zurückgehen wird, die bereit sind, sich weiterhin täglich in der Politik zu engagieren, die horizontalen Verwaltungsstrukturen aufzubauen und sich um die Lösung laufender Fragen zu kümmern. Ihre politischen Gegner, die nicht in Verbrechen gegen die Menschlichkeit verwickelt sind, bleiben gleichzeitig nach wie vor Bürger von Belarus mit ihren Rechten und einem alternativen politischen Imaginären, auch wenn ihr Anteil nur 10% beträgt. Der symbolische Kampf um die Unterstützung der außerpolitischen Mehrheit wird zur wichtigen politischen Ressource.
Eine wichtige Frage ist aus meiner Sicht, wie sich diese horizontalen Netzwerke der situativen Mobilisierung, Solidarität und politischen Partizipation, die den Protest kennzeichnen, in wirksame Strukturen der Verwaltung und der permanenten politischen Partizipation verwandeln lassen. Wie kann man sie wirksam machen, wie können sie ihr “Mandat” von der Mehrheit bewahren, die sich nicht für Politik interessiert? In Anbetracht des aufsteigenden Populismus und der Krise der Demokratie auch in den Ländern des westlichen “Kerns” ist die Lösung dieser Frage auch außerhalb von Belarus von großer Bedeutung.

“Heute ist Akrestina bereits zu einem Symbol staatlicher Gewalt geworden, aber die Geschichte der Gewalt der Wehrmacht, gegen die Akrestin kämpfte und starb, ist darin nicht enthalten.”

FA: Als deutscher Historiker möchte ich sagen: Mich beunruhigt sehr, wenn die aktuellen Geschehnisse mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt werden, gerade weil es selbst Versuche gibt, Völkermord als juristisches Mittel zur Beschreibung der Situation zu verwenden. Dies ist aus den bereits erwähnten Gründen gefährlich, wenn dahinter eine gewisse nationalistische Erzählung steht. Auf der anderen Seite erscheint mir das negativ und problematisch. Als deutscher Historiker gebe ich zu, dass es eine so seltsame Form der Einstellung zu anderen Dimensionen der Realität und zu einem anderen Krieg ist, der in Belarus real stattgefunden hat. Ich meine den Völkermord an den Juden. All das wird für mich am Beispiel Akrestina sichtbar. Es gibt Versuche, Akrestina mit Auschwitz gleichzusetzen. Aber Akrestin war ein sowjetischer Pilot, der bei der Befreiung von Minsk ums Leben kam. Es ist mehr als symbolisch. Es geht um die Frage, wie die Erzählung in Zukunft gestaltet werden soll, damit auch das Vermächtnis von Akrestin, der im Kampf gegen den Faschismus starb, einbezogen wird. Und dieses semiotische Problem wird sich wahrscheinlich noch verschlimmern. Heute ist Akrestina bereits zu einem Symbol staatlicher Gewalt geworden, aber die Geschichte der Gewalt der Wehrmacht, gegen die Akrestin kämpfte und starb, ist darin nicht enthalten.

Keine Revolution steht im Einklang mit puristischen Ideen oder Mustervorlagen aus Lehrbüchern.”

VK: Was jetzt in Belarus geschieht, ist inspirierend und erfreulich. Natürlich ist es für diejenigen, die daran beteiligt sind, die in diesem Moment dabei sind, ein einzigartiges Ereignis. Jede Revolution hat das Recht, als einzigartig erlebt zu werden. Die Kreativität des belarusischen Protests ist ansteckend und faszinierend, es sind nicht nur Plakate, Lieder, Graffiti, es ist soziale Kreativität im weitesten Sinne. Außerdem ist es auch ein sehr fotogener Protest, bei all der Ungestelltheit der Szenen.
Bei unserem Gespräch wollte ich zwei Schritte vorwärts denken, zum Beispiel die Frage stellen, ob diese Vereinigung nur ein situatives Bündnis ist oder ob es sich um eine qualitativ neue Solidarität und ein neues politisches Gremium jenseits der ideologischen Differenzen handelt. Es ist auch wichtig, die Führungsfalle nicht außer Acht zu lassen. Wenn am Ende der Proteste die Anführer – ob „große“ politische Persönlichkeiten oder sogar “zufällige” Führer – an die Macht kommen, verlieren sie dieses symbolische Kapital, werden mit sich selbst identisch und hören auf, etwas Größeres zu verkörpern, nämlich den Protest selbst. Jedes Land hatte seine eigene Post-Protest-Dynamik. Aber ich habe das Gefühl, dass dies im Moment nicht ganz angemessen ist. Wenn ich Elena und Felix zuhörte, hatte ich immer wieder den Déjà-vu-Effekt. Ähnliche Vorbehalte gab es gegenüber den ukrainischen Protesten: “Es sind die Rechten dabei, nationale Rhetorik – also ist das Nationalismus, den wir nicht unterstützen wollen”; “Ihr werdet von den westlichen Ländern und dem IWF unterstützt – also seid ihr die Marionetten des globalen Kapitals”. Und so weiter. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass keine Revolution im Einklang mit puristischen Ideen oder Mustervorlagen aus Lehrbüchern steht. Schließlich ist die belarusische Revolution ein Protest für die Zukunft, und man sollte sie aus dieser Zukunft heraus bewerten und sich stereotypen Interpretationen widersetzen.
Ich hoffe, dass dieser neue Fall zu einer Erfolgsgeschichte wird und damit der Entwicklung sowohl des theoretischen Denkens als auch dem modernen politischen Imaginären der Demokratie neue Impulse gibt.

Am Gespräch nahmen teil:
Elena Gapova, Soziologin, Department für Soziologie an der Western Michigan University (USA)
Almira Ousmanova, Philosophin, Department für Sozialwissenschaften an der Europäischen Humanistischen Universität (Litauen)
Valeria Korablyova, Philosophin, Soziologin, Institut für Osteuropastudien, Karl-Universität (Tschechien)
Felix Ackermann, Historiker, Anthropologe, Deutsches Historisches Institut (Polen)

 

Im Rahmen der Veranstaltung “Eure Vergangenheit ist unsere Zukunft?” am 13. Januar 2021 erscheint in Kooperation mit dem HAU Hebbel am Ufer eine neue Ausgabe des Magazins für zeitgenössische belarusische Kultur pARTisanka. Die Online-Diskussion zu den aktuellen Ereignissen in Belarus und den historischen Bezügen ist eine Pilotveranstaltung zum Programmschwerpunkt “‘Я выхожу!’ – Berlin trifft Minsk”.