Der glühende Raum

Ein Text aus der Publikation zum Festival “Bildet Nischen! Rückkopplungen aus dem Zodiak Free Arts Lab” von Hendrik Otremba

Jede Avantgarde braucht günstige räumliche Bedingungen zum Gedeihen. Das Westberlin der 1960er-Jahre bot mit seinen vielen frei und unkommerziell nutzbaren Orten diverse Möglichkeiten zum künstlerischen Experiment, von denen auch das Zodiak Free Arts Lab profitierte. In seinem Text bedauert Hendrik Otremba das Verschwinden solcher Orte heute und verlangt nach mehr Freiraum und freien Räumen.

Das Entstehen jener Avantgarden, deren Strahlkraft über die Jahrzehnte nicht an Intensität abnimmt und die in ihrer Innovation rückblickend noch zu wachsen scheinen, ist in der Kunstgeschichte oft an einen bestimmten Ort gebunden: Ein Zeitgeist bringt gleichgesinnt Suchende zusammen, die sich auf sozialer Ebe­ne zunächst in Abgrenzung und Distinktionsbestreben gegenüber Feindbildern und früheren Generationen formieren. Die Anhän­ger:in­nenschaft der so entstehenden (verschworenen) Gemeinschaft eignet sich dann in dilettantisch gefärbter Experimentierfreude nicht selten neue Technologien an oder deutet bestehende Verfahren um. Somit verbindet sich ein programmatisches Streben nach ungeahnten Formen mit ästhetisch radikalen und darin in Opposition zu den vorherrschenden bürgerlichen Ge­sellschaftsnormen stehenden Inhalten. Es entsteht etwas, das sich an seiner Intensität gemessen als originell und neuartig, ja, als avant­gardistisch beschreiben lässt. Und dieser Prozess vollzieht sich dabei auch bezogen auf seine Orte eben nicht im luftleeren Raum. Die Avantgarden werden vielmehr begünstigt – und nicht selten inspiriert – von lokalen, räumlichen Bedingungen.

In den 1960er-Jahren der alten BRD war Westberlin eine Stadt, die ein solches Potenzial bot: eine Insel, vergleichsweise frei von Repression, billig, bespielbar. Die Gestrandeten sehnten sich nach Freiheit und waren nicht selten dem biederen Bürgertum der geistigen Provinzialität entflohen. Abenteuer statt Wirtschaftswunder. Conrad Schnitzler kam auf verschlungenen Wegen nach Berlin, wohin er, nicht zuletzt als früher Beuys-Schüler mit Fluxus infiziert, einige elektronische Impulse aus Düsseldorf mitbrachte. Berlin begegnete ihm ungeebnet, war spürbar noch Ruine, Brachland, Spielplatz. Klaus Schulze sagt: “Berlin war zu der Zeit im allerbesten Sinn kaputt, es herrschte eine aufregende destruktive Romantik.” Ab 1968 bespielte Schnitzler mit einigen anderen den Zodiak Club, in dem – für eine Dauer von einem Jahr schon als situativ gedachtes Labor angelegt – in kurzer Zeit möglichst viel passieren sollte. Oben die Schaubühne, unten, nach 22:00 Uhr, wenn der letzte Vorhang gefallen war, ein schwarzer und ein weißer Raum. Bauhaus statt Hippietum. Im schwarzen Raum vier Podeste, auf denen bald improvisiert wurde zwischen Free Jazz, Rock und elektronischer Musik – was letztlich zur Ursuppe werden sollte für jenen diffusen Genrebegriff, der heu­te zum weltweiten Bezugspunkt des musikalisch Progressiven gilt: Krautrock. Wenn man sich anschaut, wer da binnen eines Jahres aufeinandertraf und was dann aus diesen Leuten später wurde, lässt das Vergleiche mit Warhols Factory und dem CBGB in New York zu. Hier trafen sich die, die später “Berliner Schule” genannt wurden – besagte Schnitzler und Schulze, Edgar Froese, Günter Schickert, Michael Hoenig, Dieter Moebius, Roedelius u.v.m. (u.a. in folgenden Bands: Human Being, Agitation Free, Ash Ra Tempel, Tangerine Dream). Jede:r mit jeder:m bildeten die autodidaktischen Klangforscher:innen kurze, situative Gruppen, die die Aura ihrer Werke bewahrten, indem sie sie nicht planten, konservierten oder wiederholten. Das Zodiak war im wahrsten Sinne des Wortes ein glühender Freiraum. 1969, nach dem schnellen Ende, zog es viele der Künst­ler:innen wieder zurück in die Provinzen, wo sie – zum Teil bis heute – mit der Erfahrung jenes unwiederholbaren Momentums ausarbeiteten, was sie im Zodiak so prägte: Formen reiner, musikalischer Energie.

Die Gestrandeten sehnten sich nach Freiheit und waren nicht selten dem biederen Bürgertum der geistigen Provinzialität entflohen.

Legt man diesen Grundriss fünfzig Jahre später über den Bauplan des HAU, wird klar, dass die Linien in ihren letztendlichen Bedingungen kaum noch aufeinander passen: War das Zodiak ein spontan erschlossener Raum ohne Gewinnabsicht, Bringschuld, Verantwortung (und auch ohne finanzielle Förderung einer manifest formulierten Ausrichtung oder bewussten Perspektive im Sinne eines Kulturauftrags), ist das heutige HAU Hebbel am Ufer eine Kulturstätte, die – gefördert, kuratiert, abgesichert und redaktionell begleitet – den damals freigesetzten Energien nachspürt, jedoch kaum als Raum für das Entstehen einer solch folgenreichen Explosion dienen kann. Die Programme sind von langer Hand geplant. Das ist nicht schlimm; ganz im Gegenteil lässt sich insbesondere an diesem Festival aufzeigen, wie wichtig Orte wie das HAU sind: um an die Bedeutung des konkreten künstlerischen Freiraums zu erinnern und den gegenwärtigen Freigeistern überhaupt eine Spielstätte zu bieten. Doch lässt diese imaginäre Überblendung zweier Ortsbedeutungen eine:n mit dem bedauernden Bewusstsein zurück, dass die Petrischalen der Avantgarden durch die Dichte des Kapitalismus schlicht ihres Raums in der Stadt beraubt sind. Wo einst Erfindungsreichtum stattfand, steht heute Eigentum. Berlin, das lässt sich nicht leugnen, ist verkauft. Was es also braucht – und was die Berührung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die dieses Festival ganz unmissverständlich entwirft –, sind Räume, die noch nicht wissen, was in ihnen geschehen wird! 

Hendrik Otremba, Schriftsteller und Musiker, spürt seit vielen Jahren den Pionier:innen musikalischer Avantgarden nach.

Foto: Zodiak Free Arts Lab (1967–1969), Hallesches Ufer 32, Berlin (© Detlef Krenz)