Auf dem Weg zu einem nicht-binären Theater

von Caspar Weimann (er/dey)

Binaritäten vereinfachen komplexe Sachverhalte. Im Diskurs darüber, was Theater ist und sein kann, besteht seit einigen Jahren eine Binarität, die vehement verteidigt wird: Die Unterscheidung von digital und analog. Aus meiner Perspektive als Person, die intermedial mit Theater arbeitet, als Schauspielpädagoge*, als queere Person on my way beyond the gender binary und als Millennial möchte ich diese Binarität beschreiben und dekonstruieren.

Das, was viele Menschen als digitales Theater verstehen, ist ein Trend der Pandemie. Seine Notwendigkeit begründet sich einzig in dem Wunsch, dem physisch abwesenden Publikum ein Alternativprogramm zu bieten oder eine Argumentation für die Vergabe öffentlicher Gelder zu haben, weil während der Lockdowns kein Mensch ins Theater kommen konnte. Dabei wurde die analoge Institution Theater zeitweise zu einer digitalen Experimentierküche. Künstlerische Positionen, die sich schon vor der Pandemie mit digitalen Theaterdiskursen und -ästhetiken auseinandersetzten (dazu gehört auch das Kollektiv onlinetheater.live, von dem ich Teil bin), wurden jetzt wichtig und sollten Lösungen für die neue Realität finden – wir wurden zu theatralen Begegnungsstrateg*innen im physical distancing.

Dieser stark gewachsene Einfluss war für mich neu und gleichzeitig befremdlich, besonders da digitale Theaterschaffende vor der Pandemie jahrelang als naiv und unwesentlich für das analoge Medium Theater bezeichnet und sowohl strukturell als auch diskursiv an einen Rand gestellt wurden. Das “richtige” Theater galt alslive, war eine Begegnung in leiblicher Kopräsenz und bot ein digital detoxing an.

Diese Ansicht hat die Pandemie offenbar überlebt: Die Diskussions- und Austauschforen um digitales Experimentieren werden still, die Anfragen von Theatern bleiben weitestgehend aus, die Versprechen von Nachhaltigkeit digitaler Theaterexperimente entpuppen sich als folgenlos, der Trend ist vorbei. Natürlich gibt es hier Ausnahmeinstitutionen, aber es spricht schon für sich, wie viele der Menschen, die die Experimente mit und Forschung an digitalen Theaterformen vor und in der Pandemie innovativ vorangetrieben haben, sich mittlerweile von Theaterinstitutionen abgewendet haben und nun in neuen, trans*disziplinären Arbeitskontexten und kreativen Keimzellen agieren. Als Theaterschaffende wollen sich viele nicht mehr identifizieren. Und das ist für sie auch nicht schlimm, aber ein harter Verlust für das Theater.

Dort, wo immer wieder von digitalen Theaterformen gesprochen wird, manifestiert sich die Existenz einer analogen Theaterform, die ihr widersprüchlich gegenübersteht. Sie formt ein binäres Theaterverständnis, in dessen Logik allenfalls digitale Sparten geschaffen werden können. Aber was ist eigentlich eine digitale Sparte? Warum muss man sie isolieren? Gibt es nicht-digitales Theater überhaupt in einer Welt, die digital, analog, alles zugleich ist? Und dienen diese digitalen Sparten dadurch nicht viel eher der Selbstbestätigung des Theaters als letzte analoge Bastion in dieser Welt?

Die Sehnsucht nach analoger Begegnung, die seit den Lockdowns und dem Wachstum von digitalen Theaterformen ständig artikuliert wird, nehme ich immer mehr als eine wirklichkeitsferne Nostalgie wahr, als romantisiertes Biedermeier und als Ablenkungsmanöver von der Tatsache, dass sich die Gegenwart in komplexen digitalanalogen Wechselbeziehungen konstituiert. Wenn mein digitales Ich Opfer einer Hassattacke wird, bleibt mein analoges Ich nicht unberührt davon. Was mein analoges Ich konsumiert, gestaltet die mediale Umgebung meines digitalen Ichs. Was mein Onkel in seinen Facebook-Communitys liest, vergiftet unsere Familien-Community. Die feministische Revolution im Iran löst über Social Media eine internationale Solidaritätsbewegung aus, die den Protestierenden wiederum Proxyserver legt, mit denen sie staatliche Zensur- und Überwachungsmaßnahmen umgehen können.

Und genau dort, an diesen Schnittstellen, muss das Theater der Gegenwart stattfinden. Es darf sich nicht in eine bürgerliche Beobachtungshaltung zurückziehen, sondern es trägt die Verantwortung, sich als wichtigen, mitgestaltenden, intervenierenden Teil der komplexen digitalanalogen Wirklichkeit zu verstehen. Es muss TikToker*innen koproduzieren, sich mit künstlerischen Mitteln an Protesten beteiligen, Geschichten von Whistleblower*innen erzählen, Radikalisierungsdynamiken aufhalten, Aufmerksamkeitsökonomien durchbrechen und die Stimmen von marginalisierten Menschen über Filterblasen hinaus hörbar machen. 

Es ist Zeit für das Theater, mit der überkommenen Annahme einer Trennung von digital und analog kreativ umzugehen. Eine komplexe Wirklichkeit lässt sich nicht in binären Strukturen vereinfachen. Sie ist nicht-binär. Und zu einer nicht-binären Wirklichkeit gehört ein nicht-binäres Theater. Dieses Theater arbeitet trans*disziplinär, schwarmintelligent und intermedial.

November 2022