Die Jina-Revolution

Mehr als vier Monate sind seit Jina Mahsa Aminis Tod vergangen, und die Proteste in Iran gegen das Regime halten bis heute an, ebenso wie die Meldungen über Hinrichtungen von Protestierenden. Was bedeutet diese Revolution für Iraner*innen in der deutschen Diaspora? Welche Tools der Solidarisierung nutzen sie, welche Visionen für die Zukunft von Iran wagen sie? Und welche Rolle spielt die Kunst als Mittel des Widerstands? Darüber spricht Azadeh Sharifi mit Azadeh Ganjeh und Mitgliedern des Woman* Life Freedom Collective Ozi Ozar und Anahita Safarnejad.

Azadeh Sharifi: Hallo zusammen, vielen Dank, dass ihr an dieser Diskussion teilnehmt. Ich bin Azadeh Sharifi, meine Pronomen sind sie/ihr, und ich wurde darum gebeten, die Moderation zu übernehmen. Ich bin eine Theater- und Performance-Wissenschaftlerin aus Deutschland, arbeite aber derzeit als Assistenzprofessorin an der Universität von Toronto. Ich bin eine Iranerin in der deutschen Diaspora – wir kamen in den 1980er-Jahren als Geflüchtete in das Land, ich wuchs in einem Flüchtlingslager auf und bekam erst mit 18 Jahren einen deutschen Pass. Meine Eltern waren politisch links eingestellt und gegen das Schah-Regime. Während des Mullah-Regimes waren sie zunächst untergetaucht, bis wir aus dem Land fliehen mussten. Das ist mein iranischer Hintergrund.

Azadeh Ganjeh: Mein Name ist ebenfalls Azadeh, Nachname Ganjeh. Der Name hat etwas mit dem Jahr zu tun, in dem wir beide geboren wurden, er hat eine lange Geschichte mit kulturellen und politischen Implikationen. Meine Pronomen sind sie/ihr, und ich bin ebenfalls Performance- und Theaterwissenschaftlerin. Ich habe in der Schweiz in Philosophie und insbesondere in Theaterwissenschaften promoviert, lebte aber vorher im Iran und bin nach dem Studium wieder in den Iran zurückgekehrt. Ich war knapp fünf Jahre lang Assistenzprofessorin in der Abteilung für Performative Künste der Universität Teheran, dann musste ich das Land verlassen. Jetzt lebe ich als Scholar at Risk in Berlin. Mittlerweile bin ich Mitglied der Philipp-Schwartz-Initiative für gefährdete Wissenschaftler*innen und arbeite als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur der Universität Hildesheim. Außerdem bin ich Performance-Künstlerin, Theaterregisseurin, Autorin und Dramaturgin. Mein Feld ist eher das Theater mit sozialer Stoßrichtung, für Demokratie und Entwicklung. Und ich sollte vielleicht hinzufügen, dass ich seit neun Monaten in Berlin lebe, also seit relativ kurzer Zeit.

Ozi Ozar: Mein Name ist Ozi. Ich benutze im Englischen die Pronomen they/them, im Deutschen keine Pronomen. Ich habe an der Goethe-Universität Frankfurt Dramaturgie studiert und zuvor Theater- und Filmregie in Teheran. Seit 2018 lebe ich im Exil, offiziell seit 2019. Seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie konzentriere ich mich auf die Arbeit mit multimedialen Plattformen und sozialen Medien und untersuche, wie “Theater” auf digitalen Plattformen funktioniert und wie man in diesem Rahmen vor allem queere Themen behandeln und zu diesen Perspektiven forschen kann. Seit dem Beginn der aktuellen Revolution in Iran hatte ich das Gefühl, dass ich meine Plattform nutzen sollte, um Material zur Aufklärung und Information bereitzustellen, und genau damit bin ich jetzt beschäftigt.

“Mich interessiert vor allem, wie ich das, was wir derzeit erleben, in Kunst verwandeln kann.” Anahita Safarnejad

Anahita Safarnejad: Mein Name ist Anahita. Ich lasse mich nicht durch Zahlen definieren, wen interessiert schon wie viel oder wie lange? Mein Herz lebt in einer Utopie ohne Grenzen. Ich brenne für Worte und für das Kino. Ich suche nach Licht in der Dunkelheit. Ich liebe es, in Dinge einzutauchen, sie durch die Sprache des Kinos und die Magie der Worte zu erleben und auszudrücken. Ich bin Filmemacherin, ich habe an der Soore High School Film studiert und war danach an der Soore University. Für diejenigen, die es nicht wissen: “Soore” ist eine der islamischen Organisationen mit eigener Universität in Teheran. Ich werde oft gefragt, wie ich auf dieser Universität gelandet bin, aber das ist eine andere Geschichte. Ich habe dort Filmregie studiert. 2016 bin ich nach Berlin gezogen, um in Babelsberg Filmproduktion zu studieren. Ich hatte das Studium gerade beendet, als die Revolution in Iran begann – was für ein Zufall, dass mein Land zur selben Zeit wie ich eine Umbruchphase durchläuft! Wir halten uns also gegenseitig an der Hand und laufen dem Sieg entgegen, hoffentlich. Ich versuche, mich meist einfach an die Kunst zu halten. Wie Ozi schon meinte, wenn ich versuche, über Politik zu sprechen, muss ich mich auch genauer informieren. Mich interessiert vor allem, wie ich das, was wir derzeit erleben, in Kunst verwandeln kann. Das ist auch wichtig, um mehr Menschen mit ins Boot zu holen. Ich glaube, das ist unsere Mission.

Azadeh S.: Es gibt so viele Ähnlichkeiten zwischen uns, aber auch einige Unterschiede. Die Frage, wo wir aufgewachsen sind – als Kind aus dem Iran zu fliehen und in der Diaspora aufzuwachsen oder im erwachsenen Alter, als Student*in zu flüchten –, ist bestimmt ein wichtiger Gesichtspunkt. Aber lasst uns damit beginnen, euer Kollektiv vorzustellen, Woman* Life Freedom, und es dann mit den Ereignissen in Iran zu verbinden.

“Als Kollektiv praktizieren wir etwas, das man “Deep Democracy” nennt. Im Grunde gibt es in diesem System kein Vetorecht, stattdessen aber ein Konzept für awareness.” Ozi Ozar

Ozi: Das Kollektiv ist aus einer Telegram-Gruppe heraus entstanden. Im Grunde begann es vor dem Südblock am Kottbusser Tor in Berlin bei einer Solidaritätsdemo. Es herrschte eine extrem einladende Atmosphäre, in der wir zueinander finden konnten. Das hat unser Kollektiv der kurdischen Community zu verdanken. Es muss wirklich betont werden, dass die Arbeit und der Widerstand dieser Gemeinschaft uns anfangs die Möglichkeit verschafft haben, Verbindungen untereinander herzustellen und einander zu finden. Ich kannte Anahita schon vorher, aber ich wusste nicht, dass sie sich auf diese Demo und in die Organisation weiterer politischer Aktionen stürzen würde. Bei der Versammlung vor dem Südblock wurde uns klar, dass wir etwas tun wollten. Wir haben also die Telegram-Gruppe eingerichtet, und dann sind die Leute, bildhaft gesprochen, wie Pilze aus dem Boden geschossen. Wir hatten auf einen Schlag über 100 Mitglieder. Zeitweise kannten wir gar nicht alle Personen in der Gruppe. Als wir das Kollektiv gründeten, erkannten wir, dass es einerseits um Weiterbildung gehen muss, andererseits aber auch um ein Verständnis dafür, welche Perspektiven entwickelt werden müssen, vor allem in Bezug auf queere Perspektiven. Von Anfang an standen wir der Verwendung des Begriffs “Frau” sehr kritisch gegenüber. Wir mussten uns damit auseinandersetzen, was mit “Frau” gemeint ist. Ich möchte auf das kurdische Wort “jin” verweisen, dem nicht dieses koloniale (binäre) Verständnis eines “weiblichen” oder “cis-weiblichen” Körpers zugrunde liegt. Aber auch in der kurdischen Community gibt es Homophobie und Queerfeindlichkeit, die es zu bekämpfen gilt. Wie können wir das also angehen, ohne unseren Slogan zu ändern? Ich glaube, wir sind eines der wenigen Kollektive, die immer noch ein Sternchen hinter das Wort “woman” setzen, was uns in eine heikle Lage bringt, da wir eine “linke”, “liberale” Gruppe sind, die “intersektional” ist, und sich zugleich für die queere Community öffnet, um an unseren Diskussionen teilzuhaben. Wir haben einen safer space für diese Art der Kommunikation geschaffen. Als Kollektiv praktizieren wir etwas, das man “Deep Democracy” nennt. Im Grunde gibt es in diesem System kein Vetorecht, stattdessen aber ein Konzept für awareness: Wenn sich eine Person diskriminiert fühlt, findet sich das ganze Kollektiv in einem safer space zusammen und diskutiert, was falsch gelaufen ist. Ich finde, das ist ein Element unserer kollektiven Existenz, das uns wirklich weitergebracht hat. 

Anahita: Unser Zusammenkommen damals war wirklich schön und bestärkend. Ich hatte das Gefühl, in den Tränen der Menschen um mich herum zu ertrinken, auch wenn ich sie nicht sehen konnte. Ich habe alle umarmt, es war wie ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, und das gemeinsame Erleben von Schmerz war ein Phänomen, das uns noch mehr zusammengeschweißt hat: Wir haben diese Mission, wir haben diese Wut, aber wir haben gemeinsam auch diese Kraft, also lasst uns etwas tun!

“Was bei Veranstaltungen nach dem Aufstand im Iran auch hier in Deutschland geschah, war wie ein großer revolutionärer Schritt hin zu Veränderungen für marginalisierte Gruppen, auch innerhalb der Diaspora.” Azadeh Ganjeh

Azadeh S.: Für mich ist das sehr interessant, denn meine Erfahrungen mit Demonstrationen in Toronto waren nicht besonders gut. Es gibt zwar eine große Gemeinschaft, aber deren politische Position ist für mich undurchsichtig. Ich fühlte mich nicht sicher. Aber eure Bewegung steht für Menschen, die erst vor Kurzem aus dem Iran gekommen oder eng mit den Menschen auf den Straßen Irans verbunden sind. Das ist wirklich inspirierend. 

Azadeh G.: Ich bin kein Mitglied des Kollektivs, aber ich bin in vielerlei Hinsicht eine “Konsumentin” dessen, was das Kollektiv getan hat. Vor den jüngsten Ereignissen fühlte ich mich als Iranerin nicht zur Diaspora gehörig, weil ich meine Community gar nicht finden konnte. Ich habe das Gefühl, dass ich erst durch diese Ereignisse Teil der Diaspora geworden bin, denn es bildete sich ein Kollektiv, eine Gemeinschaft, trotz aller Unterschiede. Anahita habe ich das erste Mal am Kotti getroffen, ich glaube, es war die erste der Demonstrationen in Berlin. Wir waren alle schockiert von den Ereignissen. Als sich Iraner*innen, vor allem viele Frauen, nach dem brutalen Mord an Jina Mahsa Amini vor dem Kasra-Krankenhaus versammelten und in einem Akt der Trauer protestieren wollten, habe ich vom ersten Moment an gespürt, dass sie keine Gemeinschaft bilden konnten. Sie konnten nicht einmal nebeneinander stehen und Parolen skandieren. Am selben Morgen sah ich meine ehemaligen Studierenden, die jetzt wie Freund*innen und Kolleg*innen sind, die sich kurz nach dem Begräbnis von Jina Mahsa Amini an der Universität von Teheran versammelten und demonstrierten, und ich spürte den Schmerz in meinem Körper. Ich spürte, dass ich mich bewegen musste, dass ich etwas tun musste. Und zwar mehr, als etwas zu schreiben oder zu posten, ich musste dafür wirklich in der Öffentlichkeit sichtbar werden. Was am Kotti passierte, war irgendwie therapeutisch. Teilnehmende der Demonstration gingen auf die Bühne und schnitten sich die Haare ab, es war ein sehr performativer Auftritt, der schon im Internet begonnen hatte. Ich hatte das Gefühl: Diese Online-Performance erreicht jetzt die Straßen Berlins! Das Interessante daran war, dass vor allem Anahitas Bilder und die von anderen, die an diesem Tag dabei waren, die Runde machten, etwa von diesem performativen Akt des Haareschneidens. Und ich hatte das Gefühl: Wow, die machen das toll, die machen etwas! Es passiert etwas, es kann etwas passieren, und es gibt Leute, mit denen ich mich identifizieren kann. Es folgten weitere Demonstrationen und Proteste des Kollektivs, und ich schloss mich ihnen an. Ich fand die Idee, keinerlei Fahnen zu tragen, am Anfang sehr hilfreich. Und ich schließe mich dem Gedanken an, den Ozi erwähnte, weil ich in der Zwischenzeit viele Diskussionen von anderen Parteien oder anderen Gruppen von Iraner*innen in der Diaspora erlebt habe, die ihre eigene Flagge haben wollten. Ich erinnere mich, dass das eine sehr wichtige Frage war: Warum haben Kurd*innen und die LGBTQIA+-Bewegung ihre eigenen Flaggen und wir nicht? Das war eine sehr wichtige Frage, nicht nur im Zuge dieser Ereignisse, sondern auch für das, was seither passiert ist, nach der “Jina-Revolution”, wenn ich sie so nennen darf; was also nach der Jina-Revolution in Bezug auf das Recht auf Sichtbarkeit passiert ist. In Bezug auf das Recht, marginalisierte Gruppen auf die Bühne zu bringen, auf die Bühne der Straßen, die Bühne des öffentlichen Raums. Nicht als Gruppe, die einfach aktiv sein kann oder versucht, einen Raum für ihre Aktivitäten zu finden, sondern als Gruppe, die sich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stellt. Das sind die Gruppen, die eigentlich Fahnen haben müssten, weil sie unterdrückt werden. Nicht nur durch mein Land und die Staatsgewalt und alle möglichen Regeln, sondern auch durch uns in der Diaspora. Ich denke, das war sehr wichtig. Ich fand es sehr effektiv, sehr hilfreich und erhellend. Was bei Veranstaltungen nach dem Aufstand im Iran auch hier in Deutschland geschah, war wie ein großer revolutionärer Schritt hin zu Veränderungen für marginalisierte Gruppen, auch innerhalb der Diaspora. 

Azadeh S.: Das hast du sehr schön gesagt: die “Jina-Revolution”. Die feministische Revolution wird von LGBTQIA+, weiblichen, kurdischen, belutschischen, marginalisierten Gruppen im Iran angeführt. Sie kämpfen für Anerkennung, sie kämpfen dafür, dass sie ihre Sprachen sprechen und ihre Leben leben können, ohne ständig Angst vor Unterdrückung haben zu müssen. Doch wie reagieren die Menschen in der Diaspora? Welchen Standpunkt nehmen sie ein? Was bedeutet es, dass manche den Sohn des früheren Schahs unterstützen? Welche Rolle spielt zum Beispiel die persische Deutsche Welle, wenn sie ihm eine Plattform gibt, um seine chauvinistischen und “rückständigen” Ideen zu verkünden? Azadeh, ich erinnere mich, wie du in unseren früheren Gesprächen erwähnt hast, dass es oft nur eine politische “Vision” für den Iran zu geben scheint: den Weg zurück, das heißt die Rückkehr zur Monarchie. Für mich als Deutsch-Iranerin ist es erschreckend, dass Menschen in Deutschland jahrzehntelang in einem demokratischen Land leben und sich trotzdem nach dem korrupten und kaputten System der Monarchie sehnen. Ich sehe da große Ähnlichkeiten zu “Reichsbürger*innen” und deren kruden politischen Ideen.

“Für mich ist es nichts Neues, auf Menschen zuzugehen, die in Opposition zu mir stehen oder mich diskriminieren.” Ozi Ozar

Azadeh G.: Diese Rückwärtsbewegung ist nicht nur etwas, was einige Gruppen in der Diaspora fordern oder wovon die Menschen im Iran betroffen sind. Ich denke, dies ist eine Vision des Orientalismus. Wenn wir in diese Kategorie gesteckt werden, wird von uns erwartet, dass wir uns zurückentwickeln; es wird nicht so etwas erwartet wie Deep Democracy. Ich finde, das ist das Problem mit einigen Medien, wie bei der Deutschen Welle, die du erwähnt hast. Wer sind wir? Wie werden wir definiert? Wie werden wir gesehen? Wie wurden wir charakterisiert? Was ist das Szenario, was ist die Geschichte, die über uns geschrieben wurde? Ich denke, etwas sehr Wichtiges, das bei diesem Aufstand passiert, ist, dass tatsächlich etwas kaputtgegangen ist. Und einige versuchen nun, dieses Kaputte wieder zusammenzuflicken, was mir nicht gefällt. Mir gefällt nicht, wie versucht wird, die Erwartungen anderer an uns wiederherzustellen. Als würden wir benutzt wie Schauspieler*innen, wie deren Spielfiguren auf einer Bühne. Dagegen möchte ich mich wehren.

Ozi: Vielleicht kann ich zum Thema Monarchie etwas beitragen, denn solange ich im Iran lebte, hätte ich nie gedacht, dass ich einmal zu einer Demonstration mit den Flaggen der Monarchie, mit Löwe und Sonne, gehen würde und tatsächlich mit diesen Leuten sprechen müsste. Als organisierende Person, die zwischen allen Teilnehmenden vermittelt, will man nicht, dass sie untereinander streiten, sondern muss auf diese Leute zugehen und mit ihnen reden. Für mich ist es nichts Neues, auf Menschen zuzugehen, die in Opposition zu mir stehen oder mich diskriminieren. Vor dieser ganzen Sache mit dem Iran war ich einfach Entertainer*in. In der Comedy finde ich eine Kraft, mit der ich auf Menschen zugehen kann. Und ich habe eine queere Gemeinschaft für mich beziehungsweise um mich herum aufgebaut. Aber sich in den sozialen Medien oder in der Öffentlichkeit zu exponieren ist nie sicher. Wie soll ich also im Rahmen einer Demonstration also auf eine andere Person zugehen, der das Patriarchat quasi aus den Augen tropft? Auf der Demo am 1. Oktober gab es einen Moment, in dem ich mich wirklich zu diesem Schritt überwunden habe. Ein paar Mal bin ich auf Leute mit Löwe-und-Sonne-Flaggen zugegangen – wir hatten im Vorfeld darum gebeten, keine Flaggen außer der Kurdischen und der Pride-Flagge mitzubringen – und habe sie aufgefordert, keine geschlossene Gruppe zu bilden. Das waren keine besonders friedlichen Gespräche. Insgesamt waren 10.000 Leute da, wir waren auf 2.000 vorbereitet gewesen, also war offensichtlich, dass wir nicht alles kontrollieren konnten. 
Danach habe ich eine Rede gehalten. Ich bin auf den Wagen mit der Anlage gestiegen und habe gesagt: “Ich habe mit allen von euch gesprochen, ob mit der kurdischen Fahne, mit der Pride-Fahne oder mit der Löwe-und-Sonne-Fahne – mit euch allen, die ihr gegeneinander kämpft und mich beschimpft. Jetzt ist nicht die Zeit für diese Streitereien. Lasst uns die Islamische Republik loswerden, und danach müssen wir uns demokratisch zusammensetzen und gemeinsam beraten, denn so bringt uns das nicht weiter.” Dann habe ich mir auf dem Lastwagen die Haare abgeschnitten, bin mit der Schere hinunter ins Publikum gestiegen und habe die Leute dort gebeten, mir beim Haareschneiden zu helfen. Unter denen, die mir halfen, waren viele mit der Löwe-und-Sonne-Fahne. Das war ein Moment, in dem wir verstanden, dass wir miteinander reden können, dass wir einander verstehen können, dass wir den gleichen Kampf führen, dass wir aber auch verstehen müssen, wo die roten Linien sind. Alles in allem habe ich aus den letzten vier Monaten mitgenommen, dass wir darüber nachdenken müssen, wie wir einen sichereren Raum schaffen können, eine Situation, in der auch Menschen mit Löwe-und-Sonne-Fahne das Gefühl haben, dass sie dabei sein können und Konflikte vermieden werden. Denn seien wir ehrlich: Viele der Menschen mit dieser Flagge sind Kinder, die in die Revolution hineingeboren wurden, deren Eltern aus dem Land geflohen sind und die nur einen Teil der Geschichte kennen. Für viele repräsentiert die Flagge nicht einmal die Pahlavi-Dynastie, sie benutzen sie einfach. Und wir müssen es möglich machen, untereinander in Kontakt zu treten und uns auszutauschen, denn dieser Gegensatz ist eines der Dinge, aus denen sich die Islamische Republik nährt. Aber wie sehr wir auch versuchen, diesen Raum zu schaffen: Solange andere Gemeinschaften nicht versuchen, sich kritisch mit sich selbst auseinanderzusetzen, bringt uns das nicht weiter. Denn bis jetzt hat sich Reza Pahlavi nicht hingesetzt und verkündet: “Okay, mein Vater war nicht der beste Mensch auf diesem Planeten. Bestimmte Dinge sind passiert, und ich werde versuchen, sie in Ordnung zu bringen.” Diese Leute stehen nie gerade für das, was passiert ist, und so kann man natürlich keine minoritären Gruppen hinter sich bringen. 

Anahita: Ich denke, die Lösung für uns ist zu erkennen: Wenn wir eine Revolution wollen, dann müssen wir die Revolution für uns selbst machen. Wir müssen die Revolution zuerst im Inneren angehen und uns dann aus der eigenen Komfortzone wagen und nach Veränderungen suchen. Denn für mich ist eine Revolution eine Veränderung. Deshalb habe ich ein Problem mit der Monarchie, denn wenn man etwas verändern will, kann man nicht an etwas Altem festhalten, man muss etwas Neues schaffen. Solange man an der Vergangenheit festhält, geht das nicht. Und ich denke, eine Lösung besteht auch darin zu erkennen: Wir alle, vor allem Iraner*innen, die in der Islamischen Republik aufgewachsen sind, müssen akzeptieren, dass wir die Denkmuster der Islamischen Republik in uns tragen. Wir müssen das akzeptieren, dann können wir es auch überwinden. Dann können wir uns kritisch mit uns selbst auseinandersetzen und verstehen: “Diese Art zu denken, ist das meine eigene, oder ist es ein Denkmuster, das mir in meinem vergangenen Leben eingeimpft wurde?” Wir kritisieren einander nicht, um uns schuldig zu fühlen, sondern um zu begreifen, was diese Gehirnwäsche mit uns angestellt hat, und wie wir weitermachen und verstehen können, was vor sich geht. 
Ich denke also, dass diese Revolution in jeder einzelnen Person stattfinden muss, auch in mir. Wenn ich hier sitze und rede, muss ich offen darüber sprechen, woher diese Art von Reaktionismus kommt. Denn um ehrlich zu sein, sind wir alle in einer Situation, in der wir füreinander transparent werden und die Narben der anderen sehen können. Sie sind offen, sie bluten. Ich glaube, wir alle müssen uns weiterbilden. Ich habe in diesen 100 Tagen viel gelernt. Es ist wie eine komprimierte Geschichtslektion, aber auf eine praktische Art und Weise, die uns auch hilft zu verstehen, dass es genau das war, was die Islamische Republik wollte: uns voneinander trennen. Nicht wissen, was zum Beispiel die Sprache der Belutsch*innen ist, woher sie kommen, was ihre Kultur ist. Diese Trennung fand über Jahre hinweg statt, selbst in unseren Witzen. Die Menschen standen gegeneinander. Was mich jetzt wirklich ärgert, ist, dass die Menschen außerhalb des Landes, in der Diaspora, die Freiheit haben, über die Situation zu sprechen und die Stimme der Stimmlosen zu sein. Aber das tun sie nicht, sie sind nicht ihre Stimme. Wir brauchen die Monarchie nicht, wir brauchen niemanden, der uns regiert. Ich denke, es ist ein Verrat. Es ist Verrat, diese Stimme zu benutzen und dabei nicht auf das Volk zu hören.

“Wir müssen die Revolution zuerst im Inneren angehen und uns dann aus der eigenen Komfortzone wagen und nach Veränderungen suchen.” Anahita Safarnejad

Azadeh S.: Meine Eltern waren Teil der linken Studierendenbewegung während des Schah-Regimes. Meine Mutter kam sehr jung ins Gefängnis, so wie viele andere junge iranische Frauen zu dieser Zeit. 1978 gingen die Menschen auf die Straße, weil sie Hunger hatten. Sie hatten keinen Zugang zu Bildung, Analphabetismus war in Iran sehr verbreitet. Das Land verfügte über eine Menge natürlicher Ressourcen, welche die imperialen Mächte seit jeher angezogen haben, aber der Reichtum wurde nie unter der Bevölkerung verteilt. Und falls wir uns genau erinnern wollen: Der Schah wurde von den imperialen Mächten (von den USA und dem Vereinigten Königreich) eingesetzt, nach dem, was heute als “Operation Ajax” oder Staatsstreich von 1953 bekannt ist. Der erste demokratisch gewählte Premierminister, Mohammad Mossadegh, wurde wegen seines Versuchs, die Ölgesellschaften zu verstaatlichen, gestürzt und der Schah wieder eingesetzt. Alle folgenden politischen Ereignisse basierten auf einem korrupten System, das nie dem iranischen Volk diente, sondern nur dem Erhalt von Macht und Reichtum. Als 1978 die Revolution begann, verbündeten sich die linken Parteien und Gruppen mit den islamischen Gruppen, um das Schah-Regime loszuwerden. Aber sie wurden verraten, sie wurden ermordet oder ins Exil geschickt, wie zum Beispiel Abolhassan Banisadr, der erste Präsident nach der iranischen Revolution, der mit den Stimmen linker Gruppierungen gewählt wurde. Daher bin ich äußerst skeptisch bei Koalitionen mit Leuten, die eine eher faschistoide Ideologie haben und die Idee einer Nation und einer “arischen” Rasse über die verschiedenen Gemeinschaften und Ethnien erheben und für eine zentralisierte autokratische Regierung mit einem diktatorischen Führer an der Spitze eintreten, zum Beispiel Reza Pahlavi. In diesem Sinne ist es also ein Verrat durch die Diaspora. 
Ich möchte auf unsere eigene Praxis zurückkommen, die mehr oder weniger künstlerisch (und akademisch) begründet ist. Welche Rolle kann die Kunst spielen? Und wie können Institutionen wie das HAU Raum dafür schaffen? Ich selbst bin da sehr vorsichtig und habe eine kritische Haltung gegenüber Institutionen. Aber zugleich bin ich sehr für die Aktionen und Interaktionen, die Gayatri Spivak als affirmative Sabotage vorschlägt. Und ich finde Fred Moten und Stefano Harneys Begriff der “Undercommons” hilfreich, eine Theorie und Praxis, die aus der Schwarzen radikalen Tradition stammt und sich auf den unregierbaren Bereich des sozialen Lebens bezieht, jenen Ort, an dem wir – kolonisiert, queer oder auf sonstige Weise marginalisiert – gemeinsam Sinn schaffen. 

Anahita: Ich denke an die Gruppe Feminista Berlin, wo wir über eine mögliche Ausstellung mit verschiedensten Kunstwerken gesprochen haben: Gedichte, Installationen, Videos, einen Bereich, in dem man Audioaufnahmen von der Geschichte der Revolution hören kann. Der Titel ist “Tagebuch der Revolution”. Es geht darum, einen Raum zu schaffen, unsere Ressourcen zu nutzen und einen Ort anzubieten für alle, die sich mit Kunst beschäftigen wollen. Als Tehran Art Circle haben wir zum Beispiel keine finanziellen Mittel, aber wir versuchen, jede Woche eine Installation zu realisieren. Genau das ist die Aufgabe der Kunst: die Situation klar zu machen. 

Ozi: Wie können wir Zugang zu Ressourcen erhalten? Wie können wir Podiumsdiskussionen führen oder ermöglichen, was auch immer wir gerade tun? Es hat fast fünf Monate gedauert, denn die Institutionen sind träge, wegen der Struktur, die ihnen aufgezwungen wird. Aber auch, weil sie an bestimmten Themen nicht interessiert sind. Wir haben die Erfahrung mit der Ukraine gemacht: Alle sind plötzlich zu den Grenzen des Landes aufgebrochen und haben dort flüchtende Ukrainer*innen empfangen. Das ist großartig, das sollten wir auch tun, versteht mich nicht falsch. Aber nur 50 Kilometer entfernt waren einen Monat zuvor noch andere Flüchtende gestorben, und es hat niemanden interessiert. Wie können wir also marginalisierte Anliegen sichtbar machen?
Ich denke, das Einfachste, was Kultureinrichtungen leisten können, ist, auf Gruppen wie das Kollektiv Woman* Life Freedom zuzugehen und zu fragen: “Wie können wir euch unterstützen?” Beispielsweise mit Stipendien für Menschen, die in diesem Bereich arbeiten, um ihre weiteren Aktivitäten zu unterstützen.

“Als Menschen, die ihre Länder repräsentieren wollen, als Menschen, die versuchen, transnational und nicht international zu sein, brauchen wir einen Dritten Ort. Einen ‘thirdspace’.” Azadeh Ganjeh

Azadeh G.: Ich glaube, das Problem iranischer Kunstaktivist*innen ist, dass die kulturellen Institutionen uns objektifizieren. Wollen sie uns denn wirklich eine Stimme geben? Ich denke, wir brauchen alle möglichen Arten von Handlungsmacht, und ich möchte an der Stelle Gayatri Spivak zitieren. Sie sagt nämlich, dass wir verschiedene Handlungsoptionen in Betracht ziehen sollten. Und um das zu tun, müssen wir zunächst einige Fragen beantworten, zum Beispiel: “Wie können wir die Handlungsmacht von Migrant*innen konzeptualisieren? Und wie können wir Gemeinschaften in der Diaspora erreichen, die ein Land oder eine Heimat haben, die erobert wurde?” Wir haben genau dieses Gefühl: ein Land zu haben, das erobert wird, was irgendwie seltsam ist, aber so fühlen wir uns. Ich glaube, das ist bei unterschiedlichen Gruppierungen mit unterschiedlichen politischen Überzeugungen gleichermaßen der Fall. In gewisser Weise versuchen wir alle, eine transnationale politische Einheit zu bilden, transnationale Künstler*innen zu sein. Versuchen wir tatsächlich, im Namen unseres gesamten Volkes zu handeln? Nein, wir können nicht im Namen des ganzen iranischen Volkes handeln. Und wenn wir zu dieser Überzeugung gelangen, dann muss es eben Handlungsmacht für verschiedene Gruppen geben. 
Azadeh, du hast erwähnt, dass du noch ein Kind warst, als ihr nach Deutschland kamt. Und dass deine Erfahrungen in Deutschland und deine Erfahrungen, dich repräsentiert zu fühlen, anders sind als unsere. Ich möchte darauf hinweisen, dass es für viele Kulturinstitutionen einfacher war, Zugang zu Angehörigen der zweiten Generation zu finden, die sich bereits in deren Strukturen befanden. Ich habe bei vielen Veranstaltungen Moderator*innen der zweiten oder dritten Generation erlebt, was wirklich sehr schön war. Aber zugleich habe ich festgestellt, dass es an der Vielfalt von Handlungsmacht mangelt. Und ich möchte in Frage stellen, welche Kommunikationsmöglichkeiten wir als soziale und politische Aktivist*innen haben – und welche Möglichkeiten diese Kulturinstitutionen uns einräumen. Ich denke, ein Problem ist, dass uns in Deutschland dabei ein Zweiter Ort angeboten wird. Aber das ist nicht der Ort, den wir brauchen. Als Menschen, die ihre Länder repräsentieren wollen, als Menschen, die versuchen, transnational und nicht international zu sein, brauchen wir einen Dritten Ort. Ein “thirdspace”, wie Edward Soja ihn beschreibt, ist ein realer Raum, aber beispielsweise ein digitaler. Dort können sich Menschen mit verschiedenen Teilen ihrer Identität aufhalten, und, Zitat: “Bedingungen und Orte sozialer und kultureller Ausgrenzung spiegeln sich in den symbolischen Bedingungen und Orten des kulturellen Austauschs wider”. Das HAU4, die digitale Bühne des HAU, ist für mich ein solcher Raum, der diese unterschiedlichen Strategien ermöglicht. Es befindet sich innerhalb einer deutschen Institution und erlaubt trotzdem die Entstehung eines thirdspace, in dem andere Bedingungen möglich sind. Während des derzeitigen Aufstands gibt es zum Beispiel viele Materialien, die wir online erhalten. Der Aufstand ist extrem performativ, er hat einen starken Bezug zu den darstellenden Künsten. Was wir auf der Straße sehen, ist wie eine Performance. Die Aktivist*innen im Iran können ihre eigene Stimme sein, sie können ihre eigene Bühne haben, eine digitale Bühne, eine Online-Bühne. Sie posten Videos von ihren Aktivitäten. Sie stellen Videos von ihrem Aktivismus ins Netz. Zu Beginn des Aufstands hörten wir immer wieder, dass die Menschen im Iran uns in der Diaspora baten, ihre “Stimme” zu sein. Und das haben wir versucht, aber wir haben den Überblick verloren. Doch die Menschen können ihre eigene Stimme haben. Wir können ihnen die Bühne dafür geben. Wir können versuchen, eine Struktur zu schaffen, denn Handlungsmacht braucht Struktur. Ohne Struktur kann keine Handlungsmacht entstehen. Daher brauchen wir einen Diskurs, um einen thirdspace zu ermöglichen. 

Azadeh S.: Es ist schön, euch allen zuzuhören! Ich selbst sehe die Notwendigkeit, unser Anliegen bei unseren Verbündeten innerhalb der rassifizierten und marginalisierten Gemeinschaften einzubringen, bei der BIPoC-Community, denn da gibt es eine lang anhaltende Solidarität. Es geht nicht nur darum, das weiße Publikum oder die deutsche Dominanzgesellschaft für unsere Anliegen zu gewinnen, sondern herauszufinden, wer unsere wirklichen Verbündeten sind, auf wen man sich verlassen kann und wo man Ressourcen findet. Noch einmal: Für mich gibt es bereits ein Netzwerk von BIPoC-Community-Aktivist*innen, das ich mein Zuhause nenne, ein Zuhause in der Diaspora, das dieselben Werte und Visionen teilt. Vielleicht können wir unser Gespräch mit Visionen für Iran beschließen?

“Hoffnung ist etwas, das wir jeden Tag üben müssen.” Azadeh Sharifi

Anahita: Ich habe viele schöne Visionen. Wenn wir die Augen schließen und uns das vorstellen können, was ist das Bild eines freien Iran? Für mich ist es die Akzeptanz, dass wir eine derart reiche Kultur haben, die nicht begrenzt ist. Und wir müssen akzeptieren, dass wir unterschiedlich sind, und dann anfangen, voneinander zu lernen. Einer der größten Gänsehautmomente, wenn ich an einen freien Iran denke, ist für mich, dass Kinder die Geschichte des Landes lesen und auch etwas über die Kulturen lernen. Und Meinungsfreiheit. Nach 44 Jahren der Repression und Unterdrückung können die Menschen endlich ihre Meinung sagen. All die tote Kunst, die jetzt aus dem Grab aufsteigt und die Islamische Republik heimsucht. Das ist für mich eines der Bilder, die ich mir vorstelle. Und ich hoffe, dass dieser Kreislauf durchbrochen wird, der Kreislauf des Blutes. Dass wir es nicht wieder mit einer Nation zu tun haben, die aus Grenzziehungen besteht. Das ist meine Motivation und mein Antrieb für die Zukunft: sich den traumatisierenden Ereignissen im Iran nicht zu verschließen. Wir sehen immer noch erst die Spitze des Eisbergs. Wenn sie abbricht, wissen wir, was uns noch unter Wasser erwartet. Wir müssen in Kontakt bleiben, unsere Aufmerksamkeit dorthin lenken, denn sie kann für die Menschen dort Sicherheit bedeuten. Wir dürfen das nicht einfach vergessen. Wir können nicht ignorieren, dass junge Generationen geistig und körperlich gefoltert werden. Es liegt auch in unserer Verantwortung, dies anzuerkennen und zum Heilungsprozess beizutragen. Man kann von einer kaputten Gemeinschaft nicht erwarten, dass sie etwas Neues aufbaut. Wir müssen begreifen, dass wir bei uns selbst anfangen müssen und dass die Revolution intern stattfinden muss. Und dann setzen wir uns zusammen und diskutieren über Strukturen. 

Ozi: Ich will ehrlich zu euch sein, ich bin kein optimistischer Mensch. Ich lebe seit 2019 in einer bestimmten Realität. Ich denke nicht, dass es für mich eine Zukunft in diesem Land gibt. Unabhängig davon, was in Iran passiert, glaube ich wirklich nicht, dass es dort für mich oder Menschen wie mich einen safer space geben wird. Meine Vision für diese Revolution und der Grund, warum ich weitermache, ist also, dass ich mich später nicht schuldig fühlen will, den Diskurs nicht unterstützt zu haben, und dass deshalb eine bestimmte Sache passiert ist. Dieses Gefühl der Untätigkeit, des Nicht-Stattfindens, des Nicht-Teilnehmens, das eigene nötige Fachwissen nicht zu nutzen – das ist eine Rolle, die wir alle übernehmen müssen. Ich glaube, meine Vision ist: Ich hoffe, dass die nächste Generation und eine Generation von Menschen, die mit denselben Problemen zu kämpfen haben wie ich, nicht so viel Scheiße mitmachen muss wie ich und dass sie ein offeneres oder zugänglicheres Umfeld haben, in dem sie ihre Bedürfnisse einbringen und für ihre Rechte eintreten können. Diskurse verändern wirklich etwas. Ich bin sehr froh, dass in den sozialen Medien eine Community für mich da ist und ich dort willkommen bin. Ich hoffe, dass die nächste Generation Zugang zum freien Internet hat, um diese Gemeinschaft auch für sich zu finden. 

Azadeh G.: Ich habe Missionen, und ich habe Visionen. Meine Mission war und ist es, ein Bindeglied zu sein, eine Verbindung herzustellen zwischen dem, was dort passiert, und hier. Das ist nicht nur eine soziale Mission, sondern auch eine Aufgabe für mich selbst. Denn als Person, die in der Diaspora lebt, habe ich große Angst davor, nicht zugehörig zu sein. Ich habe große Angst davor, keinen direkten Zugang zu dem zu haben, was geschieht. Meine Aufgabe ist es also, verbunden zu bleiben. Was meine Vision für die Zukunft, für die Politik in Iran ist, weiß ich nicht wirklich. Ich würde mir Demokratie in meinem Land wünschen. Ich glaube, eine Definition von Menschen in der Diaspora war immer, dass diese Menschen theoretisch darauf warten, in ihr Heimatland zurückzukehren. Ist das bei uns der Fall? Ich weiß es nicht. Aber es ist Teil der Definition, ein Merkmal für den Zustand in der Diaspora. Deshalb hoffe ich – als Kulturschaffende, als Theaterwissenschaftlerin, als Aktivistin der Performance-Kunst –, dass es in meinem Land kulturelle Hybridität geben wird. Ich wünsche mir eine hybride Situation für Kultur und Kunst. Ich wünsche mir für die Zukunft Redefreiheit – Freiheit, Wissen, Zugänglichkeit für jede Gruppe der Gesellschaft. Ich glaube, dass sich die Situation für marginalisierte Gruppen im Iran langsam ändert und bereits geändert hat. Ich weiß, dass es für diese Gruppen im Iran großen Rückhalt gibt, aber sie hatten nie verbriefte Rechte. Wir brauchen also effektive Gesetzesänderungen, wir brauchen eine neue Verfassung. Das bedeutet Veränderungen für die Demokratie, für die Menschenrechte, für die Redefreiheit. Es gibt verschiedene Pflichten, verschiedene Arten von Handlungsmacht, und wir müssen sie an uns reißen. Ich danke euch. Ich möchte noch viele Jahre lang optimistisch bleiben.

Azadeh S.: Das sind wunderbare Visionen! Auch die ohne optimistischen Blickwinkel. In meiner Forschung arbeite ich mit postkolonialen und dekolonialen Wissenschaftler*innen, Denker*innen und Autor*innen zusammen, die marginalisierten, indigenen und rassifizierten Gruppen angehören. Mein Denken ist geprägt vom Schwarzen Feminismus, von Black Womanism und von queeren Forscher*innen. Für meine eigene Vision möchte ich Mariame Kaba zitieren, eine afroamerikanische Aktivistin der Black-Lives-Matter-Bewegung, die sagt: “Hoffnung ist eine Disziplin.” Hoffnung ist etwas, das wir jeden Tag üben müssen. Sie kommt in Zeiten der Verzweiflung, aber wir sollten sie nicht loslassen. Selbst in diesen Zeiten, wenn die Gewalt und Unterdrückung islamischer Regime die Menschen zu überwältigen scheint, brauchen wir Hoffnung als unsere tägliche künstlerische, akademische und aktivistische Praxis. Ich danke euch für dieses wunderbare Gespräch!

Dieses Gespräch fand am 20.1.2023 per Zoom statt.
Aus dem Englischen übersetzt von Arno Raffeiner

Terminhinweis:
On Violence #5: Iran – A Feminist Revolution and Beyond
Mit Chowra Makaremi, Kamran Matin und Nina Vabab, Moderation: Bahar Noorizadeh

 7.2., 19:00 / HAU1

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