Die Revolutionshypothese

Paul B. Preciado

“Und was, wenn sich jetzt, inmitten dieser planetarischen Depression, die größte Revolution der Geschichte ereignet?” Ausgehend von dieser Frage formuliert Paul B. Preciado eine “Revolutionshypothese” – als somatopolitische Emanzipationsübung, die als Gegen-Fiktion der aktuell geltenden Epistemologien neue Vorstellungen davon entwirft, was wir aus der Mutation des Virus lernen wollen: Die Frage ist nicht mehr, wer wir sind, sondern was wir werden.
 

Sie sagen, dass ihre Gegenwart fremd geworden ist, dass ihre Vergangenheit umstritten ist, dass ihre Zukunft besorgniserregend ist. Aber was geht hier vor sich? Über welche Gegenwart sprechen sie? Wessen Vergangenheit ist das? Wem war diese Zukunft vorbehalten?

Unsere Gegenwart, die Gegenwart der Körper unterdrückter Minoritäten, die Gegenwart der ehemals kolonisierten Bevölkerungen, die der Frauen, die der rassifizierten Körper, der Indigenen, der arm Arbeitenden, die Gegenwart der Körper, die als sexuell abnormal gelten, die von Homosexuellen, trans Personen, von Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen, die Gegenwart der Kinder und der Alten, der nicht-menschlichen Tiere, der ethnischen oder religiösen Minderheiten … diese Gegenwart war schon immer fremd, und unsere Zukunft war seit langem eher no future als rästelhaft. Heute aber hat sich unser Zustand der Prekarität und der Enteignung, der Einsperrung oder des Exils, der Unterwerfung und des Raubs an unserem Leben verallgemeinert. Sie sprechen von Feminisierung der Arbeit, Seropositivität der Massen, Schwarz-Werden der Welt. Wir sprechen lieber davon, die kritische Masse der Unterdrückung erreicht zu haben. Basta!

Wir sind nicht einfach Zeug:innen der Ereignisse. Wir sind die Körper, durch die die Mutation kommt und sich auswirkt. Die Frage ist nicht mehr, wer wir sind, sondern was wir werden.

COVID-19 ist das neue AIDS der Heterosexuellen, der Weißen und der Normalen. Die Maske ist das Kondom der Massen. Im autoritären und digitalen Neoliberalismus der Ära Facebook-Trump ist COVID-19 das, was AIDS im vorkybernetischen Neoliberalismus der Ära British Petrol-Thatcher war.  Seit AIDS 1983 in Erscheinung trat, und auch noch nach der Entdeckung der Antiretroviralen-Therapie, sterben weltweit jährlich 700.000 Personen an mit HIV verbunden Erkrankungen. In weniger als 40 Jahren sind 32 Millionen Personen gestorben, ohne dass es irgendeine größere staatliche oder gesellschaftliche Mobilisierung gegeben hätte. Zwischen 1983 und 2020 und dem Übergang von AIDS zu COVID-19 kündigt sich die Verallgemeinerung (andere nennen es “Normalisierung”) des prekären Lebens an, der körperlichen Verwundbarkeit und des Todes, aber auch der Überwachung und der pharmapornografischen Kontrolle über den individuellen Körper und alle Formen des Sozialen. In der Ära von AIDS war das nekrologische Management auf die Schwulen beschränkt und die Bevölkerungen der ehemaligen Kolonien, auf die Schwarzen, die trans Personen, die Sexarbeiter:innen, die Junkies… Mit COVID-19 weiten sich die Bedingungen der Prekarisierung und der Kontrolle aus (mit ihrer starken Segmentierung von Klasse, Geschlecht und “race”) und betrifft mittels digitaler Technologien und Bioüberwachung die gesamte Weltbevölkerung.

Imaginieren ist Handeln: sich die Imagination anzueignen als Kraft politischer Transformation.

Der Schock, den das globale Management von COVID-19 ausgelöst hat, entfaltet seine Wirkung nun in einem Kontext, der durch den kapitalistischen Extravismus bereits überaus fragil geworden ist, durch die ökologische Zerstörung, die patriarchal-koloniale Gewalt, die erzwungene Migration und ihre Kriminalisierung, die Vergiftung durch Kunststoff und Atomstrahlung, die Prekarisierung der Lebensbedingungen, von denen die klimatische und politische Krise begleitet wird; ein Kontext der reinen Mutation, in dem die Produktions- und Reproduktionstechnologien des Lebens sich aktuell radikal verändern: Internetmonopol, Entwicklung Künstlicher Intelligenz, Biotechnologie, Modifizierung der genetischen Struktur lebendiger Organismen, digitale Überwachung, Raumfahrt, Robotisierung der Arbeit, Management von Big Data, chemische Kontrolle der Subjektivität, Vervielfältigung der Techniken künstlicher Befruchtung... Einerseits sind wir mit einem Wiederaufleben patriarchal-kolonialer Kontrolle und kybernetischem Kapitalismus konfrontiert, andererseits, und hier wird die Unsicherheit produktiv, brechen die Institutionen und die Formen der patriarchalen, sexuellen und rassistischen Legitimation der alten Herrschaft zusammen, während gleichzeitig immer neue Auseinandersetzungen und Kämpfe entstehen (#metoo, Black Lives Matter, trans- und nichtbinäre, krüppel-queere Bewegungen, Kämpfe gegen Polizeigewalt, ökologische Politik, digitale Rebellionen…).

Entweder akzeptieren wir die neue Allianz von digitalem Neoliberalismus und neonationalistischem Faschismus und mit ihr die Explosion der Formen ökonomischer Ungleichheit und rassistischer, sexueller und geschlechtlicher Gewalt und mit ihr die Zerstörung der Biosphäre, oder wir entscheiden uns kollektiv dafür, einen tiefgreifenden Prozess der Dekarbonisierung, der Entpatriarchalisierung und der Dekolonialisierung  einzuleiten. Diese zweite Möglichkeit ist für mich die “Revolutionshypothese”. Entweder akzeptieren wir entgegengesetzte, aber komplementäre Erzählungen vom unendlichen Fortschritt des Kapitalismus oder dem Ende der Welt (mit seiner posthumanistischen Version der technologischen Erweiterung bestimmter Körper und der exoplanetarischen Kolonialisierung à la Elon Musk) mit ihren Verschwörungstheorien oder kosmischer Flucht, die uns Immobilismus oder Akzeleration aufzwingt, oder aber wir verändern die Erzählung zu dem, was sich gerade zuträgt.

Und was, wenn sich jetzt, inmitten dieser planetarischen Depression, mitten in dieser Auflösung des Anthropozäns, die größte Revolution der Geschichte ereignet?

Um uns gemeinsam vorzustellen, was aus uns wird, benötigen wir eine andere politische Geschichte des lebenden Körpers. 

Hier ist das Wort Revolution kein ideologischer Slogan und kein Diktat einer Partei, sondern eine Hypothese, eine kognitive Emanzipationsübung, eine “spekulative Fabulation” – mit und nach der amerikanischen Zoologin Donna Haraway: eine Gegen-Erzählung, die versucht, die Perspektive auf das gegenwärtige Geschehen zu modifizieren. Sie versucht neue Fragen zu stellen, um neue Antworten vorzuschlagen. Imaginieren ist Handeln: sich die Imagination anzueignen als Kraft politischer Transformation.

Ob wir diese “Revolutionshypothese” aufstellen können, hängt ab von unserer kollektiven Fähigkeit, eine neue Grammatik zu erfinden, eine neue Sprache, mit der die aktuell stattfindende soziale Mutation der Sensibilität und des Bewusstseins zu verstehen ist. Die Revolutionshypothese ist eine Gegen-Fiktion, eine Bresche in die normativen Fiktionen. Um sich einen politischen Horizont jenseits des kapitalistischen patriarchal-kolonialen Regimes überhaupt vorstellen zu können, müssen sich unsere Erzählungen über uns selbst verändern: unsere eigene Geschichte müssen wir uns anders erzählen. Wir müssen das, was uns passiert, anders wahrnehmen und benennen. Die Gegenwart transfigurieren.

Um uns gemeinsam vorzustellen, was aus uns wird, benötigen wir eine andere politische Geschichte des lebenden Körpers und eine andere Erzählung vom Prozess der gegenseitigen Abhängigkeit von Tieren, Sex, der Geschlechter, Klasse und “race”… Wir müssen die verschiedenen Prozeduren verstehen, durch die ein lebender Körper nicht ein politisches Subjekt wird, wie man die Moderne hindurch sagte, sondern eher eine “Politische Symbionte”.

Aber verstehen müssen wir auch die Bedingungen unter denen dieser Prozess scheitert oder negiert wird. In der Biologie versteht man unter Symbionte eine:n der Partner:innen einer symbiotischen Beziehung: eine Verbindung, in der ein Organismus eine Beziehung mit einem oder mehreren anderen Organismen etabliert, um damit zu überleben – wie die Laktobazillen mit dem menschlichen Körper oder die Zooxantellen mit den Korallen. In ihrem Buch “Unruhig bleiben” stellt sich Donna Haraway das Leben in 400 Jahren vor, wenn das Anthropozän beendet sein wird und eine Epoche angebrochen ist, die sie “Chthuluzän” nennt: geprägt durch die Kooperation zwischen den Arten, die überlebt haben. Haraway stellt sich ein menschliches Baby vor (mit nicht-binärem Geschlecht, wie ich Haraway gerne sagen würde) mit drei “ungleichen” Eltern, das symbiotische Beziehungen mit anderen bedrohten Arten unterhält. Haraways Fiktion unterscheidet sich von der heterosexuellen Reproduktion und der politischen Identität und ist ein Modell, mit dem sich die “Revolutionshypothese” denken lässt. Angesichts einer Umorganisation der Formen der Macht und der Unterwerfung, angesichts neuer Formen der Ausbeutung: Wie werden wir die neuen politischen Symbiosen erfinden, neue Praktiken, die es uns ermöglichen, wie Anna L. Tsing sagt, “in den Ruinen des Kapitalismus zu leben”?

So wie es im zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskurs eine epistemische Lücke zwischen der allgemeinen Relativität und der Quantenphysik gibt – manche sprechen von einer Imkompatibilität der Modelle –, könnte man sagen, dass die große Schwierigkeit, die “Revolutionshypothese” zu formulieren, in der kognitiven Kluft besteht, die in der politischen Philosophie existiert (die sich manchmal als Segmentierung der Kämpfe äußert, manchmal als Inkompatibilität und als Antagonismus) zwischen der Theorie und den Praktiken der radikalen Linken sowie der politischen Ökologie auf der einen Seite und den Widerstands- und Emanzipationsgrammatiken und -praktiken der sexuellen, geschlechtlichen und rassifizierten Minderheiten auf der anderen.

Die Frage ist nicht, wer wir sind, sondern was wir werden.

Diese Spannung, die in den 1990er Jahren die Form einer Konfrontation zwischen den Forderungen nach Gerechtigkeit und nach Anerkennung angenommen hat (repräsentiert durch die Positionen von Nancy Fraser bzw. Judith Butler) hat sich heute durch die Essentialisierung der Identitäten noch verschärft: Ökologie wird nationalistisch und patriarchal-kolonial; Arbeiterbewegungen privilegieren angesichts der ökologischen Übergangs den Erhalt von Arbeitsplätzen in der Kohleindustrie; Grenzen werden im Namen eines vorgeblichen “Feminismus” für Flüchtlinge und Exilierte muslimischen Glaubens und Kultur geschlossen; Homophobie legitimiert sich durch die Verteidigung der Kindheit; die Verstärkung lokaler Narrative zur Verteidigung der “Nationalen Kultur” führt zu einer Zunahme institutioneller, rassistischer, sexueller und geschlechtlicher Gewalt; die rechtlichen Fortschritte der Homosexuellen-Bewegung übersetzen sich in eine Normalisierung der Institution der weißen, monogamen Mittelschichts-Familie; die religiösen Minoritäten radikalisieren sich angesichts der Pläne zur Normalisierung und staatlichen Kontrollen...

Die sogenannten “Subjekte” (Proletariat, Frauen, rassifizierte Minderheiten, Migrant:innen, Menschen mit Behinderungen, Homosexuelle, trans Personen...), die als Motoren der politischen Veränderung funktionieren könnten, werden in naturalisierte Identitäten transformiert und vom kybernetischen Kapitalismus als Big Data und als Daten-Ressource für einen digitalen Kampf benutzt. Angesichts dieser unauflösbaren Widersprüche behauptet diese Hypothese, dass es keine (natürlichen oder essentiellen) revolutionären Subjekte gibt, sondern eher politische Symbionten, die in der Lage sind, gemeinsam und fürsorglich zu agieren.

Die “Revolutionshypothese” besteht darauf, dass die Formen der ökologischen Ausbeutung und der somapolitischen Herrschaft (lebender Körper, segmentiert in Geschlecht, Sexualität, Sexus, “race”, Behinderung, etc.) nicht nur in Hinblick auf die industriellen Technologien ausgeübt werden, die die Ausweitung des kolonialen Kapitalismus seit dem 15. Jahrhundert charakterisiert haben. Heute ist das Internet der neue globale politische Rahmen, in dem alle Formen der Ausbeutung operieren und reaktiviert sind. Egal wo ihr gerade seid, ihr lest diesen Artikel, während ihr an einen oder mehrere Dienste eines der fünf cyber-Multis angeschlossen seid: Google, Microsoft, Facebook, Apple oder Amazon. Das Internet und die sozialen Netzwerke sind nicht nur virtueller Raum: sie sind zu den zentralen Regierungstechnologien der Unterwerfung/Subjektivierung geworden. Im Rahmen des kybernetischen Kapitalismus versucht sich die “Revolutionshypothese” an einer Theorie der “mikropolitischen Supraleitungen”, die die transfemininen Kämpfe und die der politischen Ökologie aufeinander bezieht und verstärkt, die die Projekte des Antirassismus und der Emanzipation des globalen Lumpenproletariats ausweitet und zusammen bringt.

Wir sind nicht einfach Zeug:innen der Ereignisse. Wir sind die Körper, durch die die Mutation kommt und sich auswirkt. Die Frage ist nicht mehr, wer wir sind, sondern was wir werden wollen.

Dieser Text ist zuerst im Online-Magazin “Mediapart” unter dem Titel “Hypothèse révolution“ erschienen. Aus dem Französischen übersetzt von Stephan Geene.