Wider die Grausamkeit. Für einen feministischen und dekolonialen Weg

Von Rita Segato

Lebendige Nachbarschaften sind Gemeinschaften, die soziale Netze bilden können – für Begegnung, gemeinsame Umgebungsgestaltung, kollektive Freude und gegen­seitige Sorge. Sie können als Orte gelten, in denen “Pädagogiken wider die Grausamkeit” entworfen werden können – Rita Segato beschreibt mit diesem Begriff (Stadt-)Politiken, die konkret und vor Ort alltägliches Leben ermöglichen und schützen und vor allem von Frauen getragen werden. Der folgende Textauszug gilt uns als Inspiration, um im Rahmen von “Berlin bleibt #4 – Treffpunkt Mehringplatz” diese “weibliche Politizität” für Kommunal- und Stadtpolitiken fruchtbar zu machen.

Wie konzipiert und entwirft man also “Pädagogiken wider die Grausamkeit”, die imstande sind, Sensibilität und Verbundenheit zurückzugewinnen, die sich den Zwängen der Zeit widersetzen und die vor allem alternative Wege aufzeigen? Ich verbinde vier thematische Bereiche mit der Möglichkeit, solche “Gegen-Pädagogiken” in der Welt zu etablieren. Ich werde sie hier nur kurz und knapp benennen, allem voran als eine Art Aufruf zu gemeinsamen Anstrengungen und weiteren Diskussionen. (...)

Erstens: Die Pädagogik wider die Grausamkeit wird eine Pädagogik der Gegen-Macht sein müssen und somit auch eine Pädagogik gegen das Patriarchat, weil sie sich gegen die charakteristischen Elemente der patriarchalen Ordnung wendet: Mandat der Männlichkeit, männlicher Korporativismus, geringe Empathie, Grau­­samkeit, Unsensibilität, Bürokratismus, Entfremdung, Technokratie, Formalität, Universalität, Entwurzelung, Desensibilisierung, begrenzte Bindungen und Beziehungen. Das Patriarchat ist, wie ich andernorts dargelegt habe, die erste Pädagogik der Macht und der Enteignung, sowohl hinsichtlich der geschichtlichen als auch der individuellen Entwicklung: Es ist die erste Lektion in Hierarchie, auch wenn die Struktur dieser Hierarchie sich in der Geschichte gewandelt hat.

Zweitens: Die historische Erfahrung der Frau­en kann als Beispiel für eine andere Art des kollektiven Denkens und Handelns dienen. Eine weiblich codierte Politizität besteht – und zwar nicht an sich qua Essenz, sondern aufgrund der gesammelten historischen Erfahrung – vor allem in einer Politik der raumzeitlichen und sozial kommunitären Verwurzelung. Eine solche Politik ist nicht utopisch, sondern hat einen konkreten Ort. Sie ist pragmatisch und orientiert sich an den unvorhersehbaren Ereignissen und nicht an Prinzipien einer Moral. Sie ist nahe am Geschehen und unbürokratisch, eher dem Prozess als dem Produkt zugewandt. Und vor allem sucht sie, Probleme zu lösen und das alltägliche Leben zu schützen.

Drittens: Wir Frauen haben unser eigenes Leiden erkannt und sprechen darüber. Die Männer waren dazu nicht in der Lage. Einer der Schlüssel zur Veränderung wird es sein, gemeinsam darüber zu sprechen, wie die Männer durch das Mandat der Männlichkeit und durch die unheilvolle korporative Struktur der männlichen Zunft zu Opfern werden. Es gibt geschlechterspezifische Gewalt innerhalb der Geschlechter, und das erste Opfer des Mandats der Männlichkeit sind die Männer selbst: verpflichtet, sich ab dem Moment, in dem sie gesellschaftlich agieren, dem korporativen Pakt zu beugen und seinen Regeln und Hierarchien zu gehorchen. Es ist die Familie, die sie darauf vorbereitet. Die Initiation zur Männlichkeit ist ein sehr brutaler Übergang. Diese Gewalt wird später in die Welt zurückfließen. Viele Männer verweigern sich heute dem korporativen Pakt und zeichnen damit einen Weg vor, der die Gesellschaft verändern wird. Sie machen es vor allem für sich. Nicht für uns Frauen. Und genau so muss es sein.

Viertens: Schematisch betrachtet, kann man sagen, dass auf dem Planeten zwei historische Projekte gleichzeitig existieren, die an verschiedenen Konzepten von Wohlbefinden und Glück orientiert sind: das “historische Projekt der Dinge” und das “historische Projekt der Bindungen”. Sie widmen sich unterschiedlichen Zielen der Zufriedenheit, befinden sich in einem Spannungsverhältnis und sind letztlich inkompatibel. Das historische Projekt, das sich auf die Dinge als Ziel der Zufriedenheit konzentriert, ist funktional für das Kapital und produziert Individuen, die selbst wiederum zu Waren verdinglicht werden. Das historische Projekt der Bindungen zielt auf eine Reziprozität, die Gemeinschaft herstellt. Obwohl wir zwangsläufig auf amphibische Art und Weise leben, also mit einem Bein in jeder dieser Welten, verändert eine Pädagogik wider die Grausamkeit das Bewusstsein im Hinblick darauf, dass nur eine Welt der Bindungen und der Gemeinschaftlichkeit einer Verdinglichung des Lebens Grenzen setzt.

Dieser Text ist ein Auszug aus “Wider die Grausamkeit. Für einen feministischen und dekolonialen Weg” von Rita Laura Segato (Mandelbaum Verlag, Wien / Berlin 2021), Übersetzung aus dem argentinischen Spanisch von Sandra Schmidt.

Foto: Jürgen Fehrmann