Marion Siéfert im Porträt

von Linda Peitz

Marion Siéfert beschreibt einen Theaterbesuch mit ihrer Schule als einen frühen Schlüsselmoment ihrer künstlerischen Entwicklung. Bezeichnenderweise erinnert sich die französische Autorin, Regisseurin und Performerin kaum an das Stück selbst, sondern eher an die Atmosphäre im Raum: “Wir waren eine ganze Kinderschar, mehrere Klassen, die sich nicht kannten. Ich erinnere mich an den Lärm, den wir machten, und das ‘Pssst’ der Lehrerinnen. Wir redeten viel untereinan-der. Ich erinnere mich, dass ein Junge aus meiner Klasse einem Kind aus einer anderen Klasse anvertraute, dass er in mich verliebt war. Und der besagte Junge hatte lauthals gerufen: ‘Ja, Benoît ist in Marion verliebt!’ Plötzlich stand ich im Rampenlicht.”

Diese unerwartete Verlagerung der Aufmerksamkeit ins Publikum bleibt prägend für die 1987 geborene Künstlerin. Inspiriert durch die Arbeit von Theaterkollektiven wie She She Pop und Forced Entertainment hinterfragt Siéfert von Anfang an die Rolle von Publikum und Darsteller*innen, dreht den Blick um. Ihr erstes Stück “2 ou 3 choses que je sais de vous” (deutsch: “2 oder 3 Dinge, die ich von euch weiß”, ein Bezug auf den Titel des Godard-Films “Deux ou trois choses que je sais d’elle”) entsteht 2016 im Rahmen ihres Doktorats am Institut für angewandte Theaterwissenschaften in Gießen. Die Arbeit variiert von Aufführung zu Aufführung: Siéfert beschreibt, beobachtet und analysiert, was sie von den Anwesenden auf Facebook findet, spürt Geschichten auf und erfindet mögliche Fortsetzungen. Sie lenkt unsere Aufmerksamkeit darauf, was im Raum passiert und sonst im Verborgenen bleibt.

Auch “_jeanne_dark_” thematisiert den Einfluss der sozialen Medien auf unseren Alltag und ist exemplarisch für das Œuvre von Siéfert. Das Stück findet gleichzeitig auf Instagram und im Theaterraum statt und gibt Einblick in das Seelenleben einer 16-jährigen Jugendlichen, die in strengem Elternhaus und katholischem Umfeld aufwächst. Die 2020 uraufgeführte Performance ist wie alle Stücke Siéferts am Puls unserer Zeit. Sie ist ein Nachdenken über die Generation Z und die Gefahren von sozialen Medien, zugleich eine Hommage an die Selbstbestimmung und alternative Kommunikationsformen sowie Reflexion über die Möglichkeiten neuer Räume, Genres und Interaktionsmodelle.

Doch genauso wie “2 ou 3 choses que je sais de vous” mehr ist als das Weiterdenken eines Überwachungsstaates à la George Orwell, ist auch “_jeanne_dark_” mehr als nur eine zeitgenössische Interpretation der französischen Nationalheldin Jeanne d’Arc. Siéfert nutzt ihre Stücke, um die eigene Biografie zu thematisieren – im Fall von“_jeanne_dark_”, um über ihren persönlichen Be-zug zum Katholizismus zu sprechen, mit dem sie in Frankreich aufgewachsen ist. Ihre Aufführun-gen beschäftigen sich mit der Frage, wie und was man im Theater von sich selbst erzählen kann – mit dem Blick auf Gefühle statt auf Dokumentarisches. Die Figur der Jeanne taucht bereits in “Le Grand Sommeil” auf, hier noch in der Rolle eines elfjährigen Mädchens, deren monströse Träume Einblick geben in die Schattenzonen ihrer Kindheit. Für ihre dritte Regiearbeit “Du Sale! (Real Shit!)” arbeitet die junge Regisseurin mit einem Community Theater in einer Banlieue von Paris und ließ dort die komplexen Biografien der Tänzerin Janice Bieleu und der Rapperin Laëtitia Kerfa aka Original Laeti aufeinander treffen. Die Stücke von Marion Siéfert sprengen Grenzen, sind Orte für Experimente und lebendige Geschichten. Die Bühne gehört ganz den Performer*innen, ihre Texte sind präzise, die Inszenierung in höchstem Maß unterhaltsam – in einem Moment einfühlsam und poetisch, im nächsten dramatisch, poppig und laut. Kulturelle Codes des Theaters und formal-ästhetische Fragen treten im Œuvre von Marion Siéfert in den Hintergrund und schaffen Raum für echte Dialoge und Begegnungen. 

Im Programm von “Spy on Me #4”:

Marion Siéfert                            
_jeanne_dark_
22.–24.9.2022 / HAU2
 

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Bild oben: NewfrontEars

Festivalprogramm “Spy on Me #4 – New Companions”